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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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war Matwej Benzionowitsch zufrieden, ja er empfand sogar eine gewisse Freude über diese neu erworbene Rothaarigkeit, weil er sich dadurch Pelagia näher fühlte (Gott bewahre sie vor aller Unbill und Gefahr).
    Vor der Synagoge drängelte sich eine Schlange furchtbar zerlumpter Gestalten. Es herrschte ein Heidenlärm, aber nicht der typisch russische Radau, mit groben Männerflüchen und hellem Weiberkreischen, sondern ein Jammern und Klagen, ein Nörgeln und Händeringen, mit einem Wort, ein echter jüdischer chipesch. Ach ja, heute war Freitagabend, da wurde an die mittellosen Juden Challa verteilt – Milch und ungesäuertes Brot in irdenen Gefäßen, damit sie wenigstens etwas hatten, um den Schabbat zu begehen.
    Nur ein Katzensprung von der Synagoge entfernt, hatte die Anweisung des Inspektors gelautet, gleich, wenn man in die Kleine Wilnaer Straße einbog.
    Da war es auch schon – ein eingeschossiges Haus mit einem windschiefen Aufbau (das »Spinnennest«, wie der Inspektor sich ausdrückte).
    »Lombard – und Darlehenskasse Ephraim Golossowker« stand auf Russisch, Polnisch und Hebräisch auf einem Aushängeschild.
    Ein Rat im Wert von fünfundzwanzigtausend Rubel
    Unter Glockengeklingel betrat Berditschewski das Kontor, das auf den ersten Blick außerordentlich vernachlässigt wirkte und einen sehr armseligen Eindruck machte. Sah man sich indes etwas genauer um, stellte man fest, dass die staubigen, teilweise gesprungenen Fenster mit starken Eisenstangen gesichert waren, und bemerkte das dreifache englische Patentschloss an der Tür sowie den Tresor aus matt schimmerndem Krupp-Stahl.
    Aha, wir möchten uns gern arm stellen, folgerte der Staatsanwalt in Gedanken und betrachtete den Inhaber.
    Herr Golossowker trug abgewetzte Ärmelschoner an den Ellenbogen und eine schmierige Jarmulke auf dem Hinterkopf; ein Bügel seiner Brille war mit einem Stück Schnur geflickt. Er warf einen kurzen Blick auf den Besucher und widmete sich sofort wieder seinem Rechenbrett, das er geschäftig klackern ließ.
    Außer ihm befand sich noch eine weitere Person im Kassenraum – ein stutzerhaft gekleideter blonder junger Mann mit schnurgerade gezogenem, glänzendem Scheitel. Er stand in einer Ecke an einem Pult und schrieb etwas in ein zerfleddertes Hauptbuch.
    »Schabat schalom«, grüßte Matwej Benzionowitsch, dem bevorstehenden Schabbat gemäß.
    »Guten Tag«, nuschelte der junge Mann.
    Er hatte einen weichen, geradezu seidigen Blick.
    Der Wucherer nickte nur. Dann sah er den Ankömmling noch einmal an, diesmal etwas länger, und streckte seine Hand aus, mit der Handfläche nach oben.
    »Zeigen Sie ’s mir.«
    »Was soll ich zeigen?«, fragte Berditschewski verwundert.
    »Was Sie mitgebracht haben, natürlich.«
    »Wie kommen Sie darauf, dass ich etwas mitgebracht hätte?«
    Golossowker verdrehte die Augen, seufzte und erklärte geduldig, als redete er mit einem Schwachsinnigen:
    »Es gibt zwei Gründe, aus denen die Leute zu mir kommen. Entweder, um ein Darlehen aufzunehmen, oder um einen Gegenstand zu verpfänden. Sie werden doch nicht so zedrejter sein, anzunehmen, ich würde einem wildfremden Menschen Geld leihen? Nein, Sie sind kein zedrejter. Ein Jude, selbst wenn er ein zedrejter, oder, um sich zivilisiert auszudrücken, ein Idiot ist, trägt nicht eine Melone für zwölf Rubel und ein Jackett aus englischem Tweed für vierzig oder fünfundvierzig Silberrubel. Also haben Sie irgendein Pfand mitgebracht. Nun, was haben Sie? Eine goldene Uhr? Einen Ring mit einem Stein?«
    Er schob die Brille auf die Nasenspitze, platzierte an ihrer Stelle eine Lupe, die er auf der Stirn getragen hatte, und schnipste mit den Fingern.
    »Los, machen Sie schon. Ich bin zwar kein zadik und schon gar kein Rabbi, aber am Freitagabend gehe ich in die Synagoge, und dann singe ich ›Schalom alejchem, mal‘ achej ha-schalom‹ und setze mich anschließend an die Festtafel. Kescha, was gibt es dort herumzuwirtschaften?«, fragte er zu dem Blonden gewandt. »Weiß Gott, ich hätte lieber einen gottlosen Juden einstellen sollen, der am Freitagabend und Samstag im Kontor aushelfen kann.«
    »Gleich, gleich, Ephraim Lejbowitsch«, sagte Kescha sanft und krakelte mit doppelter Geschwindigkeit in dem Buche herum. »Ich finde irgendwie die Türkishalskette von Madame Sluzker nicht auf der Liste. Will sie sie etwa nicht auslösen? Morgen ist doch der letzte Tag.«
    »Natürlich will sie, und sie wird kommen, Schabbat oder nicht, und mir die Ohren

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