Pelagia und der rote Hahn
kamen sie gut miteinander aus, und keiner wollte dem anderen an die Gurgel.
Einige wenig erfreuliche antisemitische Gedanken kamen Berditschewski in den Kopf, gerade passend für einen Getauften. Vielleicht liegt es ja nur an den Juden?, dachte er. Die jüdische Religion ist sehr individualistisch, jeder Jude existiert mit Gott allein, folglich nur für sich selbst. Deshalb ist es gut, wenn nicht zu viele von ihnen da sind. Sind sie aber sehr zahlreich, oder bilden sie sogar die Mehrheit der Bevölkerung, wie hier in Shitomir, dann erzeugen sie eine so dichte Konzentration von Energie, dass die Atmosphäre Funken schlägt.
Andererseits, in Petersburg gab es nur sehr wenige Juden, weil sie sich in der Hauptstadt eigentlich nicht niederlassen durften, und dort war dieses Gefühl, auf einem schlafenden Vulkan zu sitzen, noch stärker als in Shitomir.
Damit hatte er auch die Antwort auf seine Frage. Es lag nicht an den Juden und noch weniger an der Unterschiedlichkeit von Abstammung oder Konfession.
Es lag an der Obrigkeit.
In Sawolshsk war die Obrigkeit in Ordnung, und deshalb lebten alle friedlich miteinander, der Nachbar hatte auf seinen Nachbarn keinen Groll, und niemand guckte dem anderen in die Hose, ob er beschnitten war oder nicht. Und wenn es einer doch mal tat, kriegte er sofort eins auf den Buckel, und zwar sowohl von der irdischen Macht in Person des Gouverneurs als auch von der geistlichen in Person des Bischofs.
In Shitomir hingegen wurde der Hader unter den Einwohnern durch die Obrigkeit sogar noch befördert, wofür jener Polizeimeister Likurgowitsch der beste Beweis war. Und genauso verhielt es sich in Petersburg und im Grunde im ganzen Reich.
Die Obrigkeit teilte die Volksgruppen und Religionen ein in bessere und schlechtere und vollkommen inakzeptable. So entstand eine kolossale Leiter, von der Russland sehr leicht irgendwann einmal herunterkrachen und sich die Beine brechen konnte – wenn nicht sogar den Hals.
Auf der obersten Stufe standen die orthodoxen Großrussen, darunter kamen die orthodoxen Slawen nichtrussischer Abstammung, dann die deutschen Lutheraner, dann die Grusinier, Armenier, Muselmanen, Katholiken und Raskolniki, und ganz unten die Juden. Schlimmer als die Juden waren nur noch die verbotenen Sekten – irgendwelche Geisteskämpfer oder Flagellanten. Jeder Untertan wusste, auf welcher Stufe sein Platz war, und jeder war mit seiner Position unzufrieden, einschließlich der Großrussen, die zwar eigentlich privilegiert waren, von denen aber neun Zehntel hungerten, Analphabeten waren und schlechter lebten als mancher niedriger Stehende.
Diese Allegorie roch allerdings ein wenig nach Sozialismus, und zu diesem hatte Matwej Benzionowitsch ein durchaus kritisches Verhältnis. Er hielt die Theorie einer von oben verordnten Gleichheit für eine Unheil bringende Versuchung aus Deutschland, die ungefestigte Geister ins Verderben zog. Deswegen beendete der Staatsanwalt seine philosophischen Exkurse und kehrte seufzend in die Realität zurück. Es war auch höchste Zeit – der Schlossberg lag hinter ihm, und hier begann schon der Bezirk Podgurka, welchen der Inspektor des Gouvernements-Gefängnisses als »widerliches jüdisches Wanzennest« bezeichnete hatte.
Vermutlich hat der Inspektor Recht, dachte Berditschewski, als er durch die schmutzigen Gassen des jüdischen Viertels schritt. Wie können diese »Leibgardisten« es eigentlich fertig bringen, angesichts solchen Elends noch Pogrome zu veranstalten? Hier ist doch ohnehin schon alles verkommen und verfallen.
Überall sah man dem gepflegten Herrn mit der Melone neugierig hinterher. Viele grüßten ihn auf Jiddisch, manche versuchten sogar, ein Gespräch anzuknüpfen, aber Matwej Benzionowitsch wich höflich aus: Antschuldiken si mir, Verehrtester, ich bin in Eile.
Der Staatsrat hatte sich vom blonden Engel wieder in einen Dunkelhaarigen verwandelt. Zu diesem Zweck hatte er in dem bereits erwähnten »Salon de beauté« die Haarfarbe »Infernalische Sissi« erstanden, die dem geschätzten Käufer einen Haarschopf von der Farbe »schimmernden Rabengefieders mit einem zauberhaften Hauch von Anthrazit« verhieß.
Die natürliche Couleur seiner Haare hatte er allerdings nicht wiederherstellen können (offenbar lagen der blonde Engel und die Sissi in einem chemischen Konflikt miteinander), und die schüttere Vegetation auf dem Scheitel des Staatsanwaltes färbte sich rotbraun. Aber da man diesen Farbton bei Juden auch nicht selten sah,
Weitere Kostenlose Bücher