Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
an geheimen Aktionen teilgenommen.«
    Schließlich und endlich geruhte der Staatsrat, sich besänftigen zu lassen, aber es dauerte, es dauerte.
    Und da folgte der Gegenangriff von Seiten des inkriminierten Kolja. Er zeigte mit dem Finger auf Matwej Benzionowitsch und schrie mit einer Stimme, die vor Gekränktheit klirrte:
    »Er hatte ganz andere Haare, die waren schwarz!«
    »Dummkopf! Hast du schon mal was von Haarfärbemittel gehört?«, warf der Staatsanwalt verächtlich hin.
    »Du bist wirklich ein Dummkopf, Kolja«, kam ihm der Friseur zu Hilfe. »Komm mal bei mir vorbei, ich verwandele dich in null Komma nichts in einen Itzig.«
    »Und wozu haben Sie sich die Haare wie ein Jude schwarz gefärbt?«, fragte Sawtschuk mit finsterem Blick.
    Berditschewski machte ihm ein Zeichen – können wir mal kurz unter vier Augen . . .
    Dort flüsterte er dem Jessaul ins Ohr:
    »Morgen färbe ich mir die Haare wieder schwarz. Ich habe den Plan, mich als Juden auszugeben und in ihre Kreise einzuschleichen. Ich will herausfinden, was man gegen sie unternehmen kann. Ich hoffe, von Ihnen die notwendigen Informationen zu erhalten, zum Beispiel darüber, wer nach der Abreise von Schefarewitsch dem Synedrion vorsteht.«
    »Sie sind verrückt!«, rief der Fabrikant erschrocken. »Wie soll man Sie mit Ihrem Aussehen für einen Juden halten? Die merken doch sofort, dass Sie keiner von denen sind, und machen kurzen Prozess mit Ihnen, wie damals mit diesem Mädchen . . .«
    »Einmal muss jeder dran glauben, und wer rastet, der rostet, das wissen Sie ja selbst«, sagte Berditschewski bescheiden. »Also los, Sawtschuk, erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.«
    »Infernalische Sissi«
    Am Freitagmorgen begab sich der Staatsrat in die Große Berditschewskajastraße zum Vorsitzenden des Gouvernements-Gefängniskomitees, wo er einige Informationen einholte.
    Nach dem Mittagessen machte er sich an Erkundungsgang Nummer zwei, der ihn allerdings nicht etwa zur Jeschiwa »Goel-Jisrael« führte (wovon übrigens nur noch das Gebäude übrig war), nein, er hatte ein weitaus interessanteres Objekt im Auge.
    Das Wetter war hervorragend, fast sommerlich, und Matwej Benzionowitsch beschloss, einen kleinen Spaziergang zu unternehmen, zumal sich bei ihm das Bedürfnis eingestellt hatte, seine Gedanken ein wenig zu ordnen.
    Wie anders war doch Shitomir im Vergleich zu seinem geliebten Sawolshsk!
    Wie Hölle und Paradies, dachte Berditschewski immer wieder, während er sich umschaute. Hier war zweifellos die Hölle – ungeachtet der knospenden Blätter an den Bäumen, des frühlingshaft frischen Lüftchens und des blauen Himmels. Im Gegenteil, gerade im Kontrast zu dieser herrlichen Natur war die Scheußlichkeit der Stadt umso kränkender für das Auge. Wie frappant sich doch die menschliche Welt von der göttlichen unterschied!
    Der Herrgott hatte den Shitomirern den bereits erwähnten hohen Himmel, den Gesang der Vögel und diesen wunderbaren Blick vom Schlossberg auf den Teterew geschenkt.
    Die Menschen ihrerseits hatten ihre schiefen Häuser und grauen Gassen, die mit Kot und Speichel besudelten Pflastersteine und ihre eigenen bösen Gesichter dazugetan.
    In Sawolshsk war allenthalben eine diskrete Solidität und Dauerhaftigkeit zu spüren, hier aber herrschten finsteres Elend und Verfall. Man glaubte, die Häuser würden im nächsten Moment buchstäblich einstürzen und die Bewohner wie die Kakerlaken nach allen Seiten daraus hervorspritzen. Und eine unerklärliche Spannung lag in der Atmosphäre, als wollte sich die Stadt jeden Moment in einen Schlachtplatz verwandeln.
    Was für Blicke, was für Gesichter, dachte Berditschewski kopfschüttelnd, und er verspürte Sehnsucht nach seinen Sawolshskern.
    Die Shitomirer Bevölkerung war erstaunlich bunt zusammengesetzt. Neben Juden, Russen und Ukrainern gab es auch Polen, Deutsche, Tschechen und Raskolniki, und jeder von ihnen kleidete und verhielt sich nach seiner Art, jeder schaute auf den anderen herab, und niemand wollte sich mit niemandem gemein machen.
    Lag der Grund für diese Zwistigkeiten vielleicht in der unterschiedlichen Abstammung? Nein, beantwortete Matwej Benzionowitsch seine Frage gleich selber. Auch in Sawolshsk gab es allerlei buntes Volk – Tataren, Baschkiren, Sytjaken, Wotjaken, Mordwinen, und Polen auch noch. Die einen waren Orthodoxe, die anderen Altgläubige, die Dritten Moslems, die Vierten Katholiken und die Fünften waren überhaupt Heiden. Aber das störte niemanden, alle

Weitere Kostenlose Bücher