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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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weiteten sich vor Schmerz. Jakow Michailowitsch hatte dieses bemerkenswerte Phänomen im Zuge seiner Arbeit wiederholt beobachtet, und kürzlich hatte er in einem wissenschaftlichen Magazin gelesen, dass es sich dabei um eine normale physiologische Reaktion handelte, verursacht durch einen akuten Reiz des Sehnervs.
    »Also, was hat sie dich gefragt?«, wiederholte Jakow Michailowitsch, nachdem er einen Moment abgewartet hatte, bis sich die Pupillen wieder etwas zusammengezogen hatten.
    Dabei nahm er die Hand vom Mund des Jungen, aber nur einen Daumen breit, und den Finger, den er in die schmerzhafte Stelle gestoßen hatte, hielt er, der Anschaulichkeit halber, erhoben.
    »Nach dem russischen Propheten«, sagte der Junge hastig. »Nach Immanuel. . .«
    Jakow Michailowitsch lächelte und klopfte dem Bürschlein beifällig an die Stirn – der kniff vor Angst die Augen zusammen.
    »Ich glaube dir. Und wohin ist sie jetzt gegangen, weißt du das?«
    Dabei stockte ihm selber das Herz. Was, wenn er es nicht wusste?
    »Das weiß ich nicht, Onkelchen . . .«, sagte der Junge zu Jakow Michailowitschs großem Leidwesen, aber als er sah, wie sich das Gesicht des schrecklichen Mannes verdüsterte, plapperte er schnell weiter. »Sie hat von der Jesreelebene gesprochen, sie hat mich gefragt, wie man dort hinkommt. Und von Megiddo.«
    Das »Onkelchen« seufzte erleichtert.
    »Sonst hat sie nichts gesagt?«
    »N-nein, nichts . . .«
    Aus dem Bengel war offenbar nichts mehr herauszuquetschen.
    Jakow Michailowitsch überlegte.
    »Onkelchen, Ehrenwort, ich habe Ihnen alles erzählt. . .«
    »Halt den Mund, Kleiner, stör mich jetzt nicht. Ich überlege, ob ich dich am Leben lassen kann«, brummelte er und kratzte sich am Ohr.
    Und da sprudelte es aus dem Judenbengel heraus – ganz feierlich und im Brustton der Überzeugung:
    »Ich darf auf gar keinen Fall sterben, ich muss doch noch die Menschheit retten!«
    Das gab den Ausschlag. Wenn er ein Retter der Menschheit war, dann würde er ganz bestimmt alles ausplaudern, so viel war Jakow Michailowitsch klar. Und die jüdische Buschtrommel, die kennen wir ja.
    Er lächelte den Jungen beruhigend an, strich ihm mit der einen Hand über seinen beuligen Hinterkopf, nahm mit der anderen das schmale Kinn und drehte es einmal kurz und kräftig zur Seite.
    Etwas piepste in der mageren Hühnerbrust, Jakow Michailowitsch öffnete die Hände, und das ganze Häuflein Elend rutschte lautlos die Wand herab. Der von all der Gelehrsamkeit angeschwollene Kopf fiel auf die Schulter, und der Retter der Menschheit war endgültig bei seinem Volke angekommen.

X
    Das Spinnennest
    Sieh mal an, der Berditschewski
    Berditschewski schaute dem Gruppenleiter des Kiewer Abschnitts nicht in die Augen, sondern auf seine feuchten, kussbereit vorgestülpten Lippen und zischte angewidert:
    »Der Judaskuss. Na, hast du mich erkannt, du Judenfreund?«
    Da kam ihm das nützliche Wort, das er gerade von dem Jessaul gelernt hatte, schon bestens zustatten.
    Sawtschuk machte große Augen, Kolja stülpte die Lippen wieder zurück und ließ das Kinn herunterklappen.
    Also vorwärts, Angriff ist die beste Verteidigung.
    »Einen schönen ›Apostel‹ haben Sie da!«, fuhr Berditschewski den Fabrikanten an. »Dieses Früchtchen habe ich im ›Bristol‹ gesehen! Das reinste Judennest, ein Jude neben dem anderen! Und der hier kriecht vor denen auf allen vieren. Sie duzen ihn und rufen ›Kolja hierhin‹ und ›Kolja dahin‹, und er macht den Bückling und nennt sie beim Namen und Vatersnamen! Wenn ich sehe, wie russische Menschen so ihren Stolz mit eigenen Füßen in den Schmutz treten, wird mir schwarz vor den Augen!«
    Der Jessaul versuchte eilig, Kolja in Schutz zu nehmen.
    »Aber das macht er doch mit Absicht! Das ist sein Auftrag! Im ›Bristol‹ steigen alle wichtigen Juden ab. Nikolai ist unser Informant!«
    Doch der erboste Staatsanwalt hörte gar nicht zu. »Wegen ein paar lausiger Kopeken macht er da den Kotau!«, tobte er. »Vielleicht spielt er ja hier den Informanten für die Juden!«
    Matwej Benzionowitsch war grandios in seinem Grimm. Schaum sprühte von seinem Mund, und er ruderte so wütend mit den Armen, dass der Träger erschrocken zurückwich, gegen einen Stuhl stieß und zu Boden stürzte.
    Die anderen sprangen herbei, um ihm aufzuhelfen.
    »Ich versichere Ihnen, Herr Ditschewski, Sie irren sich, er gehört zu uns!«, redete der Jessaul auf Berditschewski ein. »Wir haben ihn vielfach überprüft! Er hat auch

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