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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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einsehen, warum sie auf die Führungsrolle verzichten soll, wenn der Mann die Position des starken Geschlechts nicht mehr ausfüllt. In hundert Jahren vielleicht wird die Gesellschaft (zumindest ihr kultivierter Teil) vollständig aus femininen Männern wie Kescha und maskulinen Frauen wie Fira Dorman bestehen. Dann werden alle Instinkte und Fleischestriebe ganz und gar durcheinander geraten sein!
    Matwej Benzionowitschs Gedanken schweiften immer weiter ab, in eine immer fernere und noch fernere Zukunft. Die Menschheit wird aussterben, grübelte er aufgebracht, weil irgendwann der Unterschied zwischen den Geschlechtern völlig verschwunden ist und sich die Menschen überhaupt nicht mehr vermehren! Es sei denn, die Wissenschaft findet bis dahin eine andere Möglichkeit der Reproduktion der menschlichen Gattung, vergleichbar der vegetativen Fortpflanzung. Vielleicht kann man dann, zum Beispiel, eine Rippe nehmen, wie einst der Herrgott von Adam, und daraus einen neuen Menschen ziehen. Vollkommen hygienisch und keusch. Keine primitiven Triebe mehr, keine Verschlingung männlicher und weiblicher Urinstinkte.
    Was für ein Glück, dass ich dieses irdische Paradies nicht mehr erleben werde, dachte der Staatsrat fröstelnd.
    »Da ist es – Schloss Schwarzeneck«, sagte Kescha und zeigte nach oben.
    Eine einzigartige Sammlung
    Matwej Benzionowitsch lehnte sich aus der Kutsche und erblickte in der Ferne einen großen, dunklen, spitz zulaufenden Block, auf dessen Scheitelpunkt winzige Lichter flimmerten. »Was ist das dort, Feuer?«, wunderte er sich.
    »Die Fackeln auf den Türmen. Ich habe doch gesagt, es ist ein mittelalterliches Schloss.«
    Sie bogen von der zerfurchten, holprigen Landstraße in einen gepflasterten Weg ab, der auf die seltsame Erhebung zuführte.
    Bald konnte Berditschewski erkennen, dass es sich bei dem Klotz um einen hohen, mit Wald bestandenen Berg handelte, auf dessen Gipfel die Burg auf ragte. Jetzt sah er schon die zinnengekrönten, vom flackernden Licht der Fackeln erhellten Mauern.
    Im nächsten Augenblick fuhr der Phaethon in den Wald, und das Schloss verschwand aus dem Sichtfeld. Es wurde vollkommen dunkel.
    »Gut, dass wir eine Laterne auf der Deichsel haben«, bemerkte der Staatsanwalt, der spürte, wie der Wagen sich zur Seite neigte. »Man sähe ja die Hand vor Augen nicht.«
    Für einen Moment hatte er das Bild ganz deutlich vor sich: Die Kutsche kippt über die steile Böschung, poltert kopfüber ins Unterholz und landet am Ende in einer dieser berüchtigten Fallgruben, in der angespitzte Spieße stecken . . .
    »Keine Angst, Semjon kennt den Weg gut.«
    Der Weg zog sich spiralförmig um den Berg herum und gewann dabei allmählich an Höhe. Die Bäume zu beiden Seiten rückten immer dichter heran, sie wirkten wie ein massiver Staketenzaun, man konnte sich kaum vorstellen, dass nur hundert Schritt weiter Licht brannte und Menschen wohnten.
    Und wie um diesen Eindruck noch zu verstärken, schwieg Kescha beharrlich.
    »Wir fahren und fahren . . .«, brach es schließlich aus Matwej Benzionowitsch heraus. »Dauert das noch lange?«
    Seine Frage hatte keinen bestimmten Sinn, er wollte einfach eine menschliche Stimme hören, aber der junge Mann, der eben noch so gesprächig gewesen war, blieb die Antwort schuldig.
    Endlich richtete sich die Equipage wieder auf und fuhr über eine ebene Fläche, der Weg machte eine letzte Biegung und erreichte einen großen, kopfsteingepflasterten Platz. Vor ihnen erhob sich ein massiver Turm: das Burgtor mit zwei brennenden Fackeln an den Seiten. Vor dem Tor eine herabgelassene Zugbrücke, darunter der Burggraben – jener Graben, in dem, gemäß der Versicherung des Portiers, die Wasserschlange hauste . . .
    Br-rr, der reinste Gruselroman; dem Staatsrat lief es kalt über den Rücken. Er kam sich vor wie in einer anderen Zeit.
    Über ihnen erklang eine grobe, schallende Stimme.
    »Wer da?«
    Kescha öffnete die Wagentür auf seiner Seite und lehnte sich hinaus.
    »Foma? Ich bin’s, Innokenti! Mach auf. Und schalte das Licht an, man sieht ja die Hand nicht vor Augen.«
    Auf dem Vorplatz flammten zwei verblüffend moderne elektrische Laternen auf, und Berditschewski sauste aus der Mitte des zweiten Jahrtausends wieder an dessen Ende zurück. Mit Genugtuung bemerkte er die Pfähle mit den elektrischen Leitungen und den Briefkasten am Tor. Den Deibel auch, von wegen Mittelalter, von wegen Schlange!
    In den schweren Torflügeln öffnete sich eine kleine Pforte, und

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