Pelagia und der rote Hahn
die Rumtreiberei dann zu langweilig. Jetzt lebt er schon seit mehreren Jahren ohne Unterbrechung auf Schloss Schwarzeneck. Er hat sich ’s dort ziemlich originell eingerichtet, Sie werden sehen. Übrigens können Sie sich glücklich schätzen, der Graf lässt kaum einen Menschen zu sich. Exclusivité nennt man so was, das heißt auf Französisch . . .«
»Ich weiß, was das bedeutet«, unterbrach ihn Berditschewski. »Erzählen Sie lieber weiter. Ich habe inzwischen schon einige Geschichten über Ihren Grafen gehört. . .«
Aber Kescha schien zu schmollen, weil man ihn daran hinderte, mit seiner Gelehrsamkeit zu glänzen. Er brummte:
»Ohne mich würde er Sie niemals empfangen. Und der ganze Klatsch kommt nur aus Neid und Ignoranz.«
Damit verstummte er.
Somit erfuhr der Staatsanwalt nicht mehr, ob das Schloss wirklich von dichtem Wald umgeben war, den, bei strengstem Verbot, niemand betreten durfte, und ob dieser Wald tatsächlich voller Fallgruben, Schlingen und Fangeisen war, die jeden Unbefugten fern halten sollten. Mehrere junge Mädchen und ein paar Kinder, hieß es, seien auf der Suche nach Beeren und Pilzen in das Gehölz geraten und spurlos darin verschwunden. Die Polizei habe zwar Fangeisen und Gruben gefunden, aber nirgendwo ein Zeichen von den Vermissten. »Im Burggraben wohnt eine riesige Wasserschlange«, erzählte der Portier flüsternd. »Beinahe fünf Klafter lang! Sie kann einen Menschen mit einem Haps verschlingen.« Weiter hatte Berditschewski nicht zugehört, das waren zu offensichtliche Lügenmärchen. Aber jetzt bedauerte er es.
Die Equipage rollte durch hügeliges Land. Bald dunkelte es, und die ersten Sterne zeigten sich am Firmament, zuerst nur blass, doch mit jeder Minute strahlender.
Welcher Teufel hat mich bloß geritten, dachte Matwej Benzionowitsch plötzlich schaudernd, während er diese Gogol‘sche Landschaft betrachtete. Was soll ich dem Grafen sagen? Was wird mich dort überhaupt erwarten? Und was ist, wenn sich diese Homosexuellenversion bestätigt und der Magnat tatsächlich ein Verhältnis mit dem Mörder hatte?
An all dem ist nur der verflixte Jagdinstinkt schuld, der treibt einen rationalen Menschen und Familienvater dazu, seine gewohnte Vorsicht über den Haufen zu werfen.
Vielleicht sollte ich doch lieber umkehren?, überlegte der Staatsanwalt zweifelnd. Wenn mir jetzt etwas zustößt, wird kein Mensch jemals erfahren, was aus mir geworden ist.
Aber dann dachte er an Pelagia. Er sah sie vor sich, wie sie das Fallreep hinaufstieg und an Bord ging, mit gesenktem Haupt, und wie das Laternenlicht auf ihre schutzlosen Schultern fiel . . .
Da reckte der Staatsrat kampfbereit das Kinn vor und runzelte drohend die Augenbrauen. Das wollen wir doch mal sehen, wer hier wen zu fürchten hat: Berditschewski den Wolhynischen Magnaten – oder umgekehrt.
»Sie haben ein hübsches Profil«, brach Kescha auf einmal sein Schweigen. »Wie auf einer römischen Münze.«
Dabei rieb er sein Knie am Bein seines Sitznachbarn. Matwej Benzionowitsch schaute den liederlichen Grünschnabel mit strengem Blick an und rückte ein Stück ab.
»Wegen Razewitsch, stimmt’s?«, seufzte der junge Mann. »So sehr lieben Sie ihn? Nun ja, ich respektiere die Treue.«
»Ja, ich bin treu«, bestätigte der Staatsanwalt streng und wandte sich ab.
Homosexualität, was ist das eigentlich, wozu brauchen die Menschen sie?, überlegte Matwej Benzionowitsch. Auffällig ist jedenfalls, dass sich desto mehr Menschen diesem von der Gesellschaft und von allen Religionen geächteten Laster hingeben, je höher der Grad der Zivilisation ist. Aber ist es überhaupt ein Laster? Vielleicht handelt es sich einfach um eine Gesetzmäßigkeit, die damit zu tun hat, dass die Menschheit sich auf ihrem Weg vom urgesellschaftlichen Lagerfeuer bis zum elektrischen Licht immer weiter von der Natur entfernt? Ganz gleich, in welche Stadt man kommt, ob nach Petersburg, Moskau oder Warschau – sie sind überall, Jahr für Jahr werden es mehr, und sie treten immer offener auf. Das kommt doch nicht von ungefähr, das muss einen tieferen Sinn haben. Mit Sittenverfall und Lasterhaftigkeit hat das nichts zu tun. Die Menschheit durchläuft einen wichtigen Prozess, dessen Sinn wir heute noch gar nicht erfassen können. Kultur bedeutet Verfeinerung, und Verfeinerung führt zwangsläufig zu Naturwidrigkeit. Ein Mann muss nicht mehr stark sein, männliche Stärke wird gar zum Anachronismus, und die Frau will auf einmal nicht mehr
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