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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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sich Zusammenstürzen und zu Staub zerfallen.«
    »Der Antichrist?«, wiederholte Berditschewski unschlüssig.
    »Ja, der Antichrist. Und zwar nicht in allegorischem Sinne, wie etwa Napoleon Bonaparte, sondern leibhaftig. Nur hat er weder Hörner noch Pferdefuß, sondern er erscheint als Mensch mit sanftem Blick und einfühlsamer Rede. Aber ich fühle die Menschen, ich kenne sie, und deshalb sage ich: Manuila ist kein Mensch.«
    Dieser Satz war so einfach, so alltäglich dahingesagt, dass Matwej Benzionowitsch ein Schauder über den Rücken lief.
    »Und Schwester Pelagia?«, fragte er mit schwacher Stimme. »Trifft sie irgendeine Schuld?«
    Der Oberprokuror antwortete in hartem Ton:
    »In jedem Staat gibt es die Institution der Todesstrafe. In den christlichen Ländern wird sie in zwei Fällen angewendet: Bei einem schwerwiegenden Vergehen gegen die Menschlichkeit – das heißt bei einem unverbesserlichen Verbrecher – oder wenn eine Person eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, wenn sie die Grundpfeiler der Gesellschaft bedroht.«
    »Aber Pelagia ist doch weder eine Mörderin noch eine Revolutionärin!«
    »Nichtsdestotrotz stellt sie eine enorme Gefahr für unsere Sache dar, und das ist viel schlimmer als ein Verstoß gegen die Menschlichkeit. Einen Verstoß kann man verzeihen, wie es uns Christus geboten hat.« An dieser Stelle erschien in Pobedins Gesicht ein seltsames Zucken, aber er hatte sich sofort wieder in der Gewalt. »Einem reuigen Mörder kann man Gnade erweisen; man muss es sogar. Aber es wäre ein schlimmes Verbrechen, einen Menschen, der, wenn auch in edler Absicht, eine Gefahr für den gesamten Weltenbau darstellt, nicht zu vernichten. Das wäre so, wie wenn ein Arzt ein brandiges Glied, von dem die todbringende Fäule auf den ganzen Körper übergreift, nicht amputierte. Das ist das oberste Gesetz der Gemeinschaft: Man muss den Einzelnen opfern, um die Mehrzahl zu retten.«
    »Aber Sie hätten doch mit ihr reden können, so wie Sie mit mir jetzt reden«, rief Matwej Benzionowitsch. »Sie ist eine sehr kluge Frau mit einem aufrichtigen Glauben, sie hätte Sie bestimmt verstanden!«
    Der Oberprokuror sah Dolinin an. Der hob das Gesicht, das starr und finster war wie eine Maske, und schüttelte den Kopf.
    »Ich habe sofort gefühlt, dass sie gefährlich ist. Deshalb bin ich ihr nicht von der Seite gewichen und habe sie genau beobachtet. Ich kenne diesen Menschenschlag, die geben nicht auf, bis sie ein Rätsel gelöst haben. Und sie ist der Lösung schon ganz nah.«
    »Sehen Sie, Matwej Benzionowitsch, mit Ihnen kann man sich verständigen, weil Sie ein Mann sind und die Fähigkeit haben, hinter dem Teil das Ganze, hinter dem Einzelnen das Allgemeine zu sehen«, fiel Konstantin Petrowitsch wieder ein. »Eine Frau aber wird mich niemals verstehen können, weil der Einzelne für sie wichtiger ist als das ZIEL. Sie und ich, wir würden jederzeit einen einzelnen Menschen opfern, wenn es die Rettung Tausender und Millionen anderer erfordern sollte, selbst wenn uns dieser eine Mensch unendlich wertvoll wäre. Eine Frau jedoch wird sich niemals darauf einlassen, und viele Millionen werden mit dem einen Bedauernswerten zugrunde gehen, den sie verschonte. Ich habe Ihre Pelagia gesehen, und ich weiß, was ich sage. Sie will und kann nicht schweigen. Es tut mir sehr Leid, aber das Urteil ist schon gesprochen, niemand kann sie jetzt noch retten. Ich trauere um diese außergewöhnliche Frau – und Sergej Sergejewitsch noch mehr als ich, weil er sich in sie verliebt hat.«
    Berditschewski sah Dolinin entsetzt an, aber in dessen Gesicht rührte sich kein Muskel.
    »Wir werden gemeinsam um sie trauern«, schloss der Oberprokuror. »Und es soll uns ein Trost sein, dass sie im Heiligen Land ihre Ruhe finden wird.«
    Vor Verzweiflung hätte Matwej Benzionowitsch beinahe aufgestöhnt. Sie wissen es, sie wissen alles!
    »Ja, wir wissen es«, nickte Konstantin Petrowitsch, der offenbar die Kunst beherrschte, seinen Gesprächspartner auch ohne Worte zu verstehen. »Noch lebt sie, weil es so sein muss. Aber bald, sehr bald wird sie von uns gehen. Leider gibt es keinen anderen Ausweg. Es kommt vor, dass die Versammlung der Seelengefährten solche schweren Entscheidungen fällen muss, und sie tut es mit Bitterkeit und Schmerz, sogar wenn es nicht um eine einfache Nonne geht, sondern um weitaus verdienstvollere Personen.«
    Berditschewski erinnerte sich an lange zurückliegende Gerüchte über den plötzlichen Tod des

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