Pelagia und der rote Hahn
den Wiesen blühte gelb der Löwenzahn und summten die ersten schläfrigen Bienen, aber hier lag noch grauer Schnee in den Senken, in den Schluchten gurgelte Schmelzwasser, mit Eisbruch vermischt, standen die Laubbäume trostlos in winterlicher Nacktheit. Und als die Birken und Espen zurückblieben und der Tannenwald begann, da wurde es noch finsterer, noch öder. Die Bäume traten enger zusammen, das Licht schwand, und die Reisenden nahmen jetzt neue Gerüche wahr, die sie schaudern ließen. Es roch nach wilden Tieren und nach einer unbestimmten, klammen, uralten Angst. In der Nacht wurde der beunruhigende Geruch so stark, dass sich die Pferde ans Feuer drängten, furchtsam schnaubten und die Ohren aufstellten.
Pelagia musste wider Willen an die Sawolshsker Sagen von allerlei unheimlichen Waldwesen denken: von dem Bären Babai, der sich die Mädchen aus den Dörfern zur Braut holt, vom Fuchs Lisucha, der, als schöne Jungfrau verkleidet, die jungen Burschen und sogar brave Familienväter von zu Hause fortlockt. Aber am schrecklichsten war der Wolfsmensch Struk mit seinen riesigen glühenden Augen und messerscharfen Zähnen, mit dem man in der Sawolshsker Region die Kinder bange machte, damit sie nicht zu weit in den Wald hineingingen. Aus dem Maule spie er Feuer und Rauch, und er lief nicht auf dem Erdboden, sondern sprang von Wipfel zu Wipfel, wie ein Luchs. Wenn er sich jedoch auf die Erde fallen ließ, verwandelte er sich in einen wackeren jungen Burschen in einem mausgrauen Kaftan. Gebe Gott, betete sie, dass wir keinem solchen Mausemenschen hier im Wald begegnen.
In der Stadt mochten einem all diese alten Sagen und Geschichten wie naive, wenngleich sympathische Schöpfungen der Fantasie des einfachen Volkes Vorkommen, Folklore, wie man ja heutzutage mehr und mehr sagt, aber im Wald, beim Totenruf der Eulen und wenn ganz nahe die Wölfe heulten, dann glaubte man an Babai und Struk.
Und es bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass der Wald lebte, dass er dich belauschte, dass er dich ansah, und sein Blick war nicht wohlwollend, sondern feindselig. Pelagia spürte den lauernden Blick des Waldes in ihrem Rücken, manchmal so stark, dass sie sich umwandte und heimlich bekreuzigte. Oh, wie furchtbar wäre es, ganz allein im Wald zu sein.
Aber zum Glück war sie ja nicht allein.
Die von Sergej Sergejewitsch ausgerüstete Expedition setzte sich folgendermaßen zusammen:
Vorneweg, lebhaft mit dem Stabe auf den Boden klopfend, schritt der Führer, der Gemeindeälteste, hinter ihm ritt Dolinin selbst auf einem stämmigen isabellfarbenen Pferd, welches der Kreispolizeivorsteher von Gorodez dem hohen Gast überlassen hatte; dann kam das Fuhrwerk mit der Leiche (sie lag in einer Holzkiste, auf Stroh und Brucheis gebettet); neben dem Fuhrwerk gingen zwei einfache Polizisten, und den Abschluss der kleinen Karawane bildete ein Planwagen mit dem Proviant und dem Gepäck. Pelagia saß oben auf dem Bock neben dem Kutscher und ertrug standhaft das Rütteln und Schütteln des Wagens in den zahllosen Schlaglöchern, den monotonen Singsang ihres derbknochigen Nachbarn und den beißenden Rauch seiner Birkenrindenpfeife.
Die Schwester schaute ängstlich nach allen Seiten und wunderte sich immer wieder über sich selbst. Wie hatte es bloß so weit kommen können, dass sie, eine stille Ordensschwester und Leiterin einer Klosterschule, sich irgendwo am Ende der Welt unter lauter fremden Menschen wiederfand, um die sterblichen Überreste eines falschen Skandalpropheten in die Heimat zu geleiten? O Herr unser Gott, rätselhaft sind Deine Wege. Man konnte es auch anders ausdrücken: Sie hatte ihre fünf Sinne nicht beieinander gehabt. Dieser energische Petersburger Untersuchungsführer hatte sie ganz durcheinander gebracht, geradezu verhext.
In Sawolshsk hatten sie die »Stör« verlassen.
Sergej Sergejewitsch ließ sämtliche Passagiere einschließlich der »Findelkinder« gehen, da man ja einen konkreten Verdächtigen ausgemacht hatte – den Passagier aus der Kabine Nummer dreizehn.
Pelagia war sehr verwundert darüber, dass keiner der Anhänger Manuilas den Wunsch äußerte, die sterbliche Hülle ihres Idols auf seinem letzten Weg zu begleiten, sondern alle die Reise ins Heilige Land ohne Unterbrechung fortsetzen wollten. Dolinins Kommentar diesbezüglich lautete:
»Prophet sein ist eine undankbare Tätigkeit. Da hauchst du deine Seele aus, und die Leute kümmert das keinen Deut.«
»Mir kommt es dagegen so vor, als habe
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