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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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so steil. Und wenn das Seil nicht reicht, habe ich ja noch meine Strümpfe, die sind aus gutem Zwirn. Es wird schon irgendwie gehen.

V
    Miezenhirn
    Die Achillesferse
    Der Bezirksstaatsanwalt Matwej Benzionowitsch Berditschewski hatte einen gewissen Hang zur pathetischen Ausdrucksweise, eine Gewohnheit, die noch aus der Zeit stammte, da er bei Gericht vor den Geschworenen zu agieren hatte. Im Alltag verhielt es sich in der Regel so, dass er zunächst ganz normal zu sprechen begann, dann nach und nach immer mehr in Fahrt kam, bis er sich vom eigenen Schwung mitreißen ließ, und schon flochten sich alle möglichen »fürwahr« und »allzumal« in seine Rede ein.
    Auch jetzt hatte Berditschewski sachlich und mit der einem ernsten Gespräch im engsten Kreise angemessenen Zurückhaltung begonnen, aber wie üblich hielt es ihn nicht lange im Rahmen des Analytischen, und sein Vortrag rutschte unversehens ins Dithyrambische.
    »Und überdies, verehrte Schwester«, sagte er und blickte von Mitrofani zu Pelagia, »fehlen mir, wenn Sie gestatten, fürwahr die Worte, um das Übermaß meines Entzückens ob Ihrer beispielhaften Geistesgegenwart und Gründlichkeit auch nur annähernd angemessen zum Ausdruck zu bringen! Jede beliebige andere Vertreterin des schwachen Geschlechts, ja wohl neun von zehn Männern wären nach einer solch schrecklichen seelischen Erschütterung ohne Zweifel einem Nervenzusammenbruch erlegen! Nicht aber Sie! Sie haben die Ermittlung auf die richtigste, das heißt allzumal qualifizierteste Weise durchgeführt, und überdies völlig allein, ohne Herrn Dolinin! Seien Sie meiner grenzenlosen Hochachtung vor Ihrem heldenmütigen Einsatz versichert!«
    Die Nonne, angesichts einer solchen Fülle von Ausrufezeichen und derart überbordender »Hochachtung« in einige Verlegenheit gebracht, entgegnete, als wollte sie sich rechtfertigen: »Ich musste doch herausfinden, warum das Mädchen nicht zum Viehaustrieb gekommen war, nicht? Ich wollte wissen, wo sie steckte. Aber Sie haben nicht zu Ende erzählt, was mit den Flecken war.«
    Matwej Benzionowitsch seufzte traurig und antwortete (wobei er sich einen winzig kleinen Schritt auf das Glatteis der wissenschaftlichen Terminologie wagte):
    »Ich habe die Erde, die Sie vom Tatort mitgebracht haben, im Labor untersuchen lassen. Ihre Vermutung trifft zu, es handelt sich in der Tat um Blut, wie die Van-Deen-Reaktion mit einer Tinktur aus dem Harz des Guajakbaums beweist. Und die schwefeldiagnostische Untersuchung nach der Ulengut-Methode hat gezeigt, dass es sich bedauerlicherweise um menschliches Blut handelt.«
    »Ach, wie schrecklich«, rief die Nonne aus und rang die Hände. »Ich habe es befürchtet! Er hat das arme Ding umgebracht, sie in irgendeine Felsspalte geworfen und mit Steinen zugedeckt. Sie ist meinetwegen ums Leben gekommen! Was wird jetzt bloß aus ihrem ›Omelchen‹?«
    Und sie brach in Tränen aus, womit sie sich schlussendlich ganz genau so verhielt, wie es sich für die oben erwähnten Vertreterinnen des schwachen Geschlechtes gehörte.
    Mitrofani runzelte missmutig die Stirn – er konnte Frauentränen nicht ertragen, vor allem, wenn sie aus gutem Grunde vergossen wurden, so wie jetzt.
    »Die Großmutter können wir ja in unserem Spital unterbringen, ich werde sie herbringen lassen. Aber was für ein Bösewicht dein Wolfsschwanz doch ist! Nicht genug, dass er dich umbringen wollte, man bedenke – eine Nonne, er hat auch noch das Kind auf dem Gewissen. Was hat ihm das arme Ding nur getan?«
    »Er wollte ganz einfach verhindern, dass sie im Dorf erzählt, wohin sie die Nonne gebracht hat«, erklärte der Staatsanwalt und drückte ein sauberes Taschentuch in seinen Händen zusammen. Er hätte es gerne Pelagia angeboten, damit sie ihre Tränen damit trocknete, aber er konnte sich nicht dazu erkühnen.
    Die Schwester wusste sich indes gut mit ihrem eigenen Taschentuch zu helfen. Sie betupfte sich die Augen, schnäuzte sich und fragte dann mit näselnder Stimme:
    »Und was ist mit dem Stiefelabdruck? Habe ich ihn gut getroffen?«
    Erleichtert, dass das Gespräch wieder eine weniger emotionale Richtung nahm, beeilte sich Matwej Benzionowitsch zu versichern:
    »Mein Experte sagt, dass die Zeichnung des Abdrucks beinahe perfekt ausgeführt ist. Aber wie kommt es nur, dass Sie gar keine Angst hatten, ganz allein dort am mutmaßlichen Tatort!«
    »Und wie ich Angst hatte.« Pelagia schluchzte kurz auf, hatte sich jedoch schnell wieder gefasst. »Aber was

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