Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
auferstand?
    Der Eingang ins Innere der Erde – war das denn nicht der Weg aus der einen Welt in die andere, aus dem Licht in die Finsternis, aus der Welt des Sichtbaren in die Welt des Unsichtbaren? Eine Höhle ist wie der Krater eines Vulkans, der von der Oberfläche zum wahren Kern der Erde führt – eines Planeten, der, wie die Wissenschaftler behaupten, zu neunundneunzig Prozent aus Feuer besteht. So fliegen wir durch die Finsternis, auf einem Flammenball, der nur mit einer dünnen, verletzbaren Haut aus Erdkruste bedeckt ist: über uns das Verderben und unter uns auch.
    Sei es nun von diesen philosophischen Gedanken oder aus irgendeinem anderen Grund, jedenfalls kam es Pelagia so vor, als hätte die Finsternis um sie herum begonnen zu schwanken und zu verschwimmen. Sie schlummerte ein, und im Schlaf hörte sie einen leisen, unbestimmten Klang, dessen Herkunft unmöglich auszumachen war.
    Und dann geschah es.
    Aus dem Dunkel, aus der Richtung, wo sich der Eingang befand, ertönte ein Donnern und Prasseln, zuerst undeutlich, dann immer lauter und lauter.
    Pelagia sprang auf und rannte los, dorthin, wo der Lärm herkam.
    Sie kroch auf allen vieren in das Einstiegsloch, ihr Herz klopfte wie wild.
    Ihre Hände stießen gegen eine kompakte Wand aus Geröll und Stein.
    Ein Erdrutsch!
    Sie versuchte, die Steine zur Seite zu räumen – zwecklos! Unter dem Gewicht des Berges stand der Schutt wie gemauert.
    Verzweifelt rüttelte und kratzte sie an den scharfkantigen Gesteinsbrocken, brach sich die Nägel ab, zerschürfte sich die Hände, aber nichts rührte sich von der Stelle.
    Ruhig, jetzt nur nicht hysterisch werden, befahl sie sich und wischte sich mit dem Ärmel über die von kaltem Schweiß bedeckte Stirn.
    Morgen, das heißt heute schon, wird Dummka ja bemerken, dass ich nicht zurückgekehrt bin, dann kommt sie her und sieht, was passiert ist. Und wenn sie die Steine nicht selbst beiseite räumen kann, holt sie die Bauern. Für so einen Fall wird sie die Sprache ganz bestimmt wiederfinden.
    Ein paar Stunden würde sie sich gedulden müssen, höchstens einen Tag. Das war zwar unangenehm, aber zu ertragen.
    Die Nonne begab sich zurück in den offeneren Teil der Höhle und zwang sich, sich wieder ruhig hinzusetzen. Sie schraubte den Docht herunter, um Kerosin zu sparen.
    Und während sie so dasaß, krampfte ihr auf einmal ein furchtbarer Gedanke das Herz zusammen.
    Da hast du dich vorhin gefragt, aus welchem Grund du in diese Höhle gekommen bist. Vielleicht soll dich ja hier dein dir vorbestimmtes Schicksal ereilen? Vielleicht war es wirklich dein Instinkt, der dich hierher geführt hat, aber nicht der Lebensinstinkt, sondern der Todesinstinkt!
    Erregt sprang sie auf. Wie furchtbar! Das wäre doch ein böser Streich des Schicksals, wenn sie ausgerechnet hier umkommen sollte! Aber so ist es: Die Neugier treibt den Vogel in die Schlinge! Das ist die Wahrheit, aber es ist auch so dumm, so ohne jeden Sinn und Zweck.
    Sie musste irgendetwas unternehmen, sonst würde sie hier noch den Verstand verlieren. Was wollten diese verflixten Höhlen bloß von ihr? Was hatte sie ihnen denn bloß getan?
    Sie ergriff die Lampe und kletterte über Steine und Geröll tiefer in das Innere der Höhle. Wer weiß, vielleicht konnte sie ja einen anderen Ausgang finden.
    Der Gang stieg ziemlich steil bergan und wurde bald so eng, dass sie sich nur noch auf Knien und Ellbogen fortbewegen konnte. Sie kroch ein kurzes Stück, zog dann die Lampe zu sich heran, stellte sie vor sich wieder auf und krabbelte weiter. Dabei versuchte sie, nicht an die Schlangen zu denken, die es hier möglicherweise geben konnte und die um diese Jahreszeit gerade ihren Winterschlaf beendeten. Im April sollten sie ja am giftigsten sein! O Gott, o Gott. . .
    Bald weitete sich der Gang wieder und bildete eine Kaverne, die um einiges größer war als die tiefer gelegene.
    Pelagia unterzog die Wände dieser Felskammer einer gründlichen Untersuchung und entdeckte insgesamt neun Öffnungen, einige davon geräumige Durchlässe, andere nur schmale Felsspalten. Welchen Weg sollte sie wählen?
    Der Hahn war übrigens auch schon bis hierher vorgedrungen. Er hatte kein Quäntchen von seiner guten Laune verloren, lief munter hin und her und scharrte mit seinen Krallen überall herum.
    Da erinnerte sich die Schwester an das, was ihr Dummka erzählt hatte: dass ein Hahn aus jedem Labyrinth herausfinde.
    Sie hockte sich vor den Gockel hin und sprach ihm gut zu:
    »Hans-Hähnchen,

Weitere Kostenlose Bücher