Pelagia und der rote Hahn
normal. Wissen Sie, ich habe vor kurzem eine wissenschaftliche Abhandlung aus Deutschland zum Thema ›manisch-obsessive Rachsucht‹ gelesen. Es passt genau. Solche Subjekte haben permanent das Gefühl, dass die ganze Welt sich gegen sie verschworen hat, sie suchen unentwegt nach Schuldigen, an denen sie sich dann bisweilen auf brutalste Art und Weise rächen. Man muss sich das nur einmal vorstellen – er verfolgt eine Frau über Hunderte von Werst, bis fast zum Ural, quer durch den Wald, auf dem Fluss! Wie hat er das überhaupt gemacht, ist er vielleicht mit dem Ruderboot hinterhergepaddelt? Und dieser fanatische, bestialische Mordplan! Dabei nicht das leiseste Mitleid mit diesem armen Mädchen! Verzeihen Sie, aber wenn das kein Psychopath ist!«
»Und warum hat er mich nicht schon unterwegs im Wald umgebracht?«, fragte Pelagia. »Das wäre doch das Einfachste gewesen.«
»Nun, ich sagte ja schon: obsessive Rachegelüste. Ein einfacher Mord hätte ihn nicht befriedigt. Ich wage zu behaupten, dass solche pathologischen Charaktere einen starken Hang zu grotesken Inszenierungen haben – Menschen bei lebendigem Leibe begraben oder dergleichen. Außerdem wollte er vermutlich sein Vergnügen möglichst lange auskosten, deshalb auch dieses Katz-und-Maus-Spiel hinter der Tanne dort im Wald.«
Die Nonne nickte zustimmend, die Ausführungen des Staatsanwalts schienen ihr schlüssig.
»Aber noch etwas lässt mir keine Ruhe, ich denke schon die ganze Zeit darüber nach. Als der Erdrutsch sich ereignete, war ich doch unten in der Höhle, wie konnte ich also später von oben aus Zusehen, wie zuvor der Eingang verschüttet wurde?«
Mitrofani und Berditschewski tauschten Blicke aus. Dieses seltsame Detail in der Schilderung der Nonne hatten sie untereinander bereits erörtert und waren gemeinsam auch zu einem Schluss gekommen, welchen der Bischof Pelagia jetzt beizubringen suchte – auf schonendste Weise, selbstverständlich.
»Ich glaube, meine Tochter, durch die unerhörte seelische Erschütterung sind Schein und Wirklichkeit bei dir ein wenig durcheinander geraten. Kann es nicht vielleicht so gewesen sein, dass der Wolfsschwanz einfach ein Produkt deiner – nach jenem Vorfall im Wald ein wenig überreizten – Fantasie war? Schon gut, schon gut«, sagte Mitrofani hastig, als er sah, wie Pelagia sich bei diesen Worten steif auf ihrem Stuhl aufrichtete. »Vielleicht lag es ja auch an irgendwelchen äußeren Gegebenheiten. Du hast doch selbst gesagt, in dieser Höhle habe eine besondere Luft geherrscht, die dir Schwindelgefühle und Ohrensausen verursacht hat. Es könnte doch durchaus sein, dass in dieser Höhle irgendwelche Gase austreten, die Rauschzustände erzeugen – so etwas gibt es, ich habe mal darüber gelesen. Es gibt Substanzen und Emanationen in der Natur, die der Wissenschaft noch vollkommen unbekannt sind und deren Wirkung der. Mensch mit seinen fünf Sinnen nicht begreifen kann. Wie in Kanaan, weißt du noch?«
Pelagia erinnerte sich gut daran, sie erschauerte.
»Ich denke, wir werden folgendermaßen vorgehen«, verkündete Matwej Benzionowitsch munter und brachte damit das Gespräch weg von den Chimären und wieder zurück zur Realität. »Der Täter soll glauben, dass ihm sein Werk gelungen ist, die Nonne getötet, die einzige Zeugin beseitigt. Und inzwischen packen wir ihn an seiner Achillesferse!« Er klopfte mit dem Finger auf die Skizze von dem Stiefelabdruck. »Ich habe bereits gerichtswissenschaftliche Expertisen in Moskau, Petersburg und Kiew angefordert, dort gibt es hervorragende Kartotheken mit den unterschiedlichsten Sohlenprofilen. Mit etwas Glück werden wir unseren Schuhmachermeister bald gefunden haben. Und wenn wir den Schuhmacher haben, finden wir mit Gottes Hilfe auch sehr schnell den Mörder.«
»Mit Gottes Hilfe solltest du nicht allzu sehr rechnen«, bremste Mitrofani den überschwänglichen Optimismus seines geistlichen Sohnes. »Der hat wahrlich schon genug Sorgen am Hals, auch ohne deine Stiefelsohlen.«
»Tractatus de speluncis«
Das alltägliche Leben forderte wieder sein Recht, und Schwester Pelagia dachte nicht mehr an geheimnisvolle Höhlen.
Ihre Pflichten als Leiterin der bischöflichen Lehranstalt waren sehr beschwerlich und bescherten ihr überdies allerlei Turbulenzen der unterschiedlichsten Natur. Um ehrlich zu sein, muss man allerdings sagen, dass der weitaus größte Teil dieser Unruhen von der Person der Schulleiterin selbst verursacht wurde.
Als sie die
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