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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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sollte das haben, der Ausgang war doch verschüttet.
    Sie erkannte jetzt, dass sie sich genau oberhalb der Stelle befand, an der sie die Höhle betreten hatte. Da war der keilförmige Spalt, und auch die Büsche und der Einstieg selbst waren ausgezeichnet zu sehen. Aber er war gar nicht verschüttet, sondern vollkommen frei!
    Sie traute ihren Augen nicht.
    Wie war das möglich?
    Konnte es sein, dass jemand in dieser endlosen halben Stunde, die sie in dem Berg eingeschlossen gewesen war, den Erdrutsch beseitigt hatte? Wohl kaum.
    Das war ein Wunder, nicht mehr und nicht weniger.
    Da hörte sie unter sich ein Gepolter und Getöse, erst ganz leise, dann immer stärker und stärker.
    Schon wieder ein Erdrutsch?
    Die Nonne lehnte sich noch weiter vor, und plötzlich sah sie auf der Böschung oberhalb des Einstiegs einen Mann, der sich außerordentlich sonderbar benahm.
    Mit einem gewaltigen Knüttel, den er als Hebel benutzte, lockerte dieser Mann gerade einen riesigen Felsbrocken. Kleinere Steine lösten sich von ihm und kullerten den Abhang hinunter.
    Jetzt geriet der ganz dicke Block in Bewegung, und im nächsten Augenblick rumste er hangabwärts.
    Aste krachten, und eine ganze Gesteinslawine donnerte auf die Büsche herab. Nun war der Einstieg völlig verschüttet.
    Pelagia starrte wie gebannt, aber nicht etwa auf den Erdrutsch, sondern auf den Mann, der ihn ausgelöst hatte.
    Genauer gesagt auf den Kopf des Übeltäters.
    Sein Gesicht konnte sie von ihrer Position aus nicht erkennen, weil es von einer zottigen Mütze verdeckt wurde. Von dieser Mütze aber hing ein Wolfsschwanz herab, und dieser Schwanz war es, den die Nonne anstarrte.
    Das war er, genau der war es! Struks Schwanz, der an jenem Abend dort im Unterholz von einem Tannenzweig herunterhing!
    Ihre größte Angst war in diesem Moment, dass sie womöglich schlief und das alles bloß träumte. Vielleicht lag sie ja immer noch in der verschütteten Höhle und hatte einfach das Bewusstsein verloren. Gleich würde sie aufwachen und merken, dass sie sich alles nur eingebildet hatte: das Licht und die frische Luft, und es wäre nur ihr steinernes Gefängnis.
    Sie kniff die Augen zusammen, bis ihre Lider schmerzten, und hielt sich die Ohren zu.
    Nichts sehen, nichts hören!
    Als es ihr vor Anstrengung in den Ohren zu summen begann, nahm sie die Hände fort und machte die Augen wieder auf.
    Nein, das war kein Traum.
    Da war der Himmel, dort die rosa Lichtreflexe von der aufgehenden Sonne, und unter ihr die Felswand.
    Nur das Gespenst mit der Wolfsmütze war verschwunden. Das Werk seiner Hände aber war noch da – der hermetisch verschlossene Einstieg zur Höhle.
    Oder war es doch Einbildung gewesen?
    Pelagia unternahm keinen Versuch mehr, Dinge zu ergründen, die dem Verstand nicht zugänglich sind. Stattdessen betete sie. In solchen Situationen ist es ein Vorteil, Nonne zu sein: Wenn man nicht mehr weiterweiß, spricht man fix ein Gebet. Sie hatte ja genug davon gelernt, für jede nur denkbare Lebenslage: Gebete gegen den bösen Zauber, gegen die Dämonen der Dämmerung, gegen die Verfinsterung der Seele und noch viele andere mehr.
    Aber es dauerte doch ziemlich lange, wohl ein oder zwei Stunden, bis sie ihr inneres Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Als sie endlich darüber nachdenken konnte, wie sie sich aus dieser misslichen Lage befreien sollte, war es bereits heller Tag.
    Und sie hatte eine Idee. Hans-Hähnchen brachte sie darauf.
    Er war es inzwischen wohl leid geworden, auf seinem winzigen Felsvorsprung herumzuhocken wie auf einer Stange.
    Er gluckerte ein wenig vor sich hin, machte auf einmal einen Satz und sauste den Steilhang hinunter.
    Er flatterte und rotierte wie ein Wilder mit seinen gestutzten Flügelchen und landete im Gleitflug unversehrt auf ebener Erde. Dort schüttelte er sich einmal kräftig und spazierte, ohne für seine unglückliche, verlassene Leidensgefährtin auch nur einen einzigen Blick übrig zu haben, den Pfad entlang.
    Pelagia erwachte aus ihrer Erstarrung.
    Das Tuch ist kräftig, sagte sie sich, und befühlte ihr Untergewand. Wenn ich es in Streifen reiße und diese dann zusammenbinde, ergibt das einen ziemlich langen Strick. Das Ende kann man an diesem spitzen Felsvorsprung befestigen.
    Es wird natürlich nicht bis ganz nach unten reichen, aber das ist auch nicht notwendig. Vielleicht komme ich wenigstens bis zu der Stelle, wo vorhin der Wolfsschwanz war, das sind etwa fünf Klafter von hier aus, und von da ab ist es nicht mehr

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