Pelagia und der rote Hahn
blieb und in tiefes Nachdenken versank.
An ihrem ersten freien Abend (das war am vierten Tag nach ihrer Rückkehr aus Stroganowka) begab sich die Nonne zur bischöflichen Residenz. Es war ihr gestattet, sich zu jeder Tageszeit dort aufzuhalten und in den bischöflichen Gemächern zu schalten und zu walten wie bei sich zu Hause. Davon machte sie jetzt Gebrauch.
Sie hatte allerdings keineswegs vor, Seine Eminenz zu belästigen. Sie wusste ja, dass er sich in der Zeit vor dem Zubettgehen seinen »Notizen aus meinem Leben« zu widmen pflegte, ein Steckenpferd, dem der Bischof erst seit kurzem frönte und welchem er sich völlig selbstvergessen hingab.
Übrigens war es beileibe nicht Ruhmsucht oder gemeiner Dünkel, der Mitrofani dazu trieb, sein Leben zu Papier zu bringen. »Das Leben fließt dahin«, sagte er, »wie viel bleibt mir noch? Eines Tages geht man fort, ohne den Reichtum, den man erworben hat, an jemanden weitergegeben zu haben. Denn die einmalige Lebenserfahrung eines Menschen ist doch sein einzig wahrer Reichtum, den niemand ihm nehmen kann! Und deshalb versündigt sich an den Mitmenschen, wer ihnen nicht seine Gedanken und Irrtümer, seine Leiden und Erkenntnisse mitteilt – sofern er die Fähigkeit besitzt, sie in Worte zu fassen. Ich bin keinesfalls so vermessen zu glauben, dass ich viele Leser finden werde, aber vielleicht mag der eine oder andere doch einmal zu diesen Blättern greifen und Nützliches zum Heile und zur Rettung seiner Seele daraus entnehmen.«
Allerdings gab der Bischof seine Epistulae niemals aus der Hand. Nicht einmal sein Sekretär bekam diese Zeilen zu lesen, er schrieb alles eigenhändig ins Reine. »Wenn ich mal tot bin, könnt ihr es lesen«, sagte er. Dabei war er doch gesund und kräftig und vollkommen klar im Kopf, was sollte also das Gerede vom Sterben?
Pelagia schlüpfte in die Bibliothek und begrüßte leise Vater Serafim Usserdow, der sich offenbar für seine Predigten irgendwelche Textstellen aus theologischen Büchern herausschrieb.
Das Predigen war Vater Serafims größte Leidenschaft. Seine Kanzelreden waren hochgelehrt, reich verziert mit unterweisenden Zitaten und vortrefflich in ihrer Dauer. Er pflegte sich lange und gewissenhaft auf seine Auftritte vorzubereiten. Betrüblich war nur, dass seiner Gelehrsamkeit nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit gezollt wurde. Wenn den Kirchgängern zu Ohren kam, dass der Gottesdienst von Vater Usserdow gehalten wurde, suchten sie für gewöhnlich ihr Heil lieber in einer anderen Kirche, und nicht selten kam es vor, dass der arme Vater Serafim seine Rednergaben vor einer Hand voll schwerhöriger alter Mütterchen und Greise entfalten musste, die in die Kirche gekommen waren, um ein wenig Weihrauch zu schnuppern und sich aufzuwärmen.
Mitrofani konnte einerseits nicht dulden, dass die Würde des Gottesdienstes solcherart litt, wollte andererseits den eifrigen Prediger aber auch nicht verletzen, weshalb er ihm die Ausübung seiner Rednertätigkeit seit einiger Zeit nur noch in der zur bischöflichen Residenz gehörigen Kirche gestattete, vor den Zellendienern und dem Gesinde, die nicht weglaufen konnten.
Als er Pelagia suchend die Bücherschränke abschreiten sah, bot der Sekretär höflich seine Hilfe an. Die Nonne bedankte sich, lehnte aber in bestimmtem Tone ab, denn sie wusste sehr gut: Wenn du den erst mal am Halse hast, lässt er nicht mehr locker, bis er dir alles aus der Nase gezogen hat. Und die Sache war höchst diffizil und keineswegs für Usserdows neugierige Nase bestimmt.
Vater Serafims Feder begann wieder über das Papier zu kratzen. Jetzt schlug er, wie auf der Suche nach Inspiration, sein Taschenbrevier auf und starrte hinein.
Pelagia biss sich auf die Lippen, um nicht loszukichern. Sie hatte ganz zufällig einmal gesehen, was für eine Art Brevier das war. Auf der Innenseite des Einbands war nämlich ein Spiegel angebracht – Usserdow war doch sehr von seiner eigenen Schönheit eingenommen.
Nach einer Weile verließ der Sekretär die Bibliothek, die Schwester jedoch schritt immer noch von einem Regal zum anderen, aber sie konnte und konnte nicht finden, wonach sie suchte – weder bei der katholischen Literatur noch bei den kanonischen Schriften, noch bei den Hagiographen. Sie schaute sogar in den Schrank mit den naturwissenschaftlichen Werken, aber auch dort wurde sie nicht fündig.
Da quietschte die Tür, und Mitrofani betrat den Raum. Er nickte seiner geistlichen Tochter zerstreut zu und trat an
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