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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Scheußlichkeit und all den üblen Gerüchen Abstand zu gewinnen, hob sie den Blick empor zu den gelben Wänden der Häuser. Aber auch sie waren kein erfreulicher Anblick. Den namenlosen Erbauern fehlte offenbar jegliches Streben nach Ruhm.
    Polina Andrejewna ergriff ihren Koffer, klemmte sich die Reisetasche unter den Arm und schob sich durch das Gewimmel und Gedränge auf eine enge und abschüssige Gasse zu. Dort würde sie wenigstens etwas Schatten finden und überlegen können, was sie weiter tun sollte.
    Aber so einfach war es nicht, von dem Platz wegzukommen.
    Ein unrasierter Mensch, gekleidet in Weste und Hosen, aber mit türkischem Fes und arabischen Latschen, wies triumphierend mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf sie.
    »Ir seint a Jiddische! Kommen Sie, kommen Sie! Ich zeige Ihnen ein ausgezeichnetes koscheres Gasthaus. Sie werden sich wie zu Hause bei Mama fühlen!«
    »Ich bin aber Russin.«
    »A-ah«, sagte der Unrasierte gedehnt. »Dann müssen Sie sich an diesen Herrn dort wenden.«
    Polina Andrejewna schaute in die gewiesene Richtung und schrie freudig auf. Unter einem großen Sonnenschirm saß ein Mann auf einem Klappstuhl. Er trug eine dunkle Brille und machte einen sehr anständigen Eindruck; in der Hand hielt er ein Schild, auf dem in allerliebster Schönschrift auf Russisch geschrieben stand:
    Kaiserliche Palästinagesellschaft Billetts
und Anleitungen
für Pilger zum Grab des Herrn
    Sofort stürzte Pelagia auf ihn zu wie auf einen alten Bekannten.
    »Entschuldigen Sie, wie komme ich nach Jerusalem?«
    »Oh, da gibt es viele Möglichkeiten«, antwortete der Repräsentant der ehrwürdigen Gesellschaft gemessen. »Sie können mit der Eisenbahn fahren, zu drei Rubel fünfzig Kopeken: nur vier Stunden, und Sie sind vor den Toren der Altstadt. Der heutige Zug ist allerdings schon abgefahren, der morgige geht um drei Uhr nachmittags. Oder Sie reisen mit der achtsitzigen Postkutsche, ein Rubel fünfundsiebzig Kopeken. Abfahrt morgen Mittag zwölf Uhr, Ankunft in der Heiligen Stadt um Mitternacht.«
    Die Pilgerin begann zu überlegen. Durfte man im Heiligen Land mit der Postkutsche reisen? Oder, noch schlimmer, mit der Eisenbahn? Irgendwie kam ihr das unschicklich vor, so als führe man nach Kasan oder Samara wegen ein paar Wäscheknöpfen oder einer Rolle Zwirn.
    Ihr Blick fiel auf eine Gruppe russischer Pilger, die sich am Rande des Platzes versammelt hatten. Eben hatten sie sich niedergekniet, um das staubige Pflaster zu küssen, jetzt setzten sie sich in Marsch, weit mit dem Stabe ausholend. Aber nicht alle hatten sich erhoben. Zwei Männer hatten sich große Bastschuhe um die Knie gebunden und schrabbten damit flink bergan.
    »So werden sie die ganzen siebzig Werst bis Jerusalem kriechen«, seufzte der Repräsentant. »Haben Sie sich überlegt, welches Billett Sie nehmen möchten?«
    »Wahrscheinlich doch die Postkutsche«, sagte Polina Andrejewna unsicher. Sie befürchtete, dass die Fahrt mit der Lokomotive ihr ohnehin schon ramponiertes Gefühl von Andacht wohl endgültig absterben lassen würde.
    In diesem Augenblick zupfte sie jemand am Rock.
    Sie drehte sich um und erblickte einen dunkelhäutigen Mann von ziemlich ansprechendem Äußeren. Er trug ein langes arabisches Hemd mit einem breiten Gürtel, an dem eine blinkende Uhrkette baumelte. Der Einheimische lächelte sie mit strahlend weißen Zähnen an und flüsterte:
    »Wozu Postkutsche? Postkutsche nicht gut. Ich habe Hantur. Weißt du was ist Hantur? Das Kutsche mit Zelt oben. Fährst du wie Sultan Abd ül-Hamid. Und die Pferde, ajajaj, was für schöne Pferdchen! Arabisch Pferd! Wo du willst, wir stehen, wirst du gucken, wirst du beten, ich alles zeige! Fünf Rubel!«
    »Woher können Sie denn Russisch?«, fragte Pelagia, aus irgendeinem Grunde ebenfalls flüsternd.
    »Meine Frau Russin. Ganze klug, ganze schön! Wie alle Russin. Bin ich auch russischer Glaube. Ich heiße Salach.«
    »Salach – ist das denn ein christlicher Name?«
    »Allerchristlichste Name!«
    Und zum Beweise bekreuzigte sich der Araber mit drei Fingern und murmelte dazu in rasender Geschwindigkeit: »Vater-unserderdubistimHimmel.«
    Das war ein Zeichen des Himmels! Gleich in der ersten Minute nach der Ankunft im Heiligen Land auf einen rechtgläubigen Menschen zu treffen, noch dazu einen Palästinenser, der russisch sprach! Wie viel Nützliches würde sie von ihm erfahren können! Und dann die Reise in einer eigenen Equipage, mit guten Pferden, das war doch etwas

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