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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Ezechiel heißt: »Ich mache das Land zur öden Wüste, seine stolze Macht nimmt ein Ende, und Israels Bergland sei verwüstet, niemand mehr soll es durchwandern! Dann werden sie einsehen, dass ich der Herr bin, wenn ich das Land zur öden Wüste mache wegen all ihrer Gräueltaten, die sie verübten.«
    Und Pelagias Gedanken waren nicht die einer frommen Pilgerin, sondern zweifellos ketzerisch.
    Warum war der Gott des Alten Testaments so grausam? Warum kümmerte ihn nur das eine – dass die Juden ihn eifrig genug verehrten? War das denn so wichtig? Und warum hatte ER sich im Neuen Testament auf so wundersame Weise verändert? Oder war das doch ein anderer Gott, nicht mehr der, der Moses unterwies?
    Sie bekreuzigte sich und verjagte die gotteslästerlichen Grübeleien. Um sich abzulenken, begann sie Salachs Geplapper zuzuhören.
    Dieser schwatzte beinah ohne Unterbrechung. Da der russische Fahrgast allen seinen Versuchen, ein Gespräch anzuknüpfen, mit eisigem Schweigen begegnet war, widmete der Kutscher sich jetzt umso eifriger dem amerikanischen Paar. Auf Englisch konnte er sich nicht schlechter verständigen als auf Russisch, also zwar fehlerhaft, aber fließend und gewandt.
    In dem offensichtlichen Glauben, Pelagia sei dieser Sprache nicht mächtig, erklärte dieser unverfrorene Gauner gerade, seine Frau sei Amerikanerin und außerdem »ganze klug, ganze schön! Wie alle Amerikanerin.« Polina Andrejewna knurrte sarkastisch, enthielt sich jedoch eines Kommentars.
    Während sie das Tal von Ajjalon durchquerten, schimpfte Salach ununterbrochen auf die Juden, die die Ansässigen weder in alten Zeiten noch jetzt in Frieden leben ließen. Dabei behauptete er, die Palästinenser hätten schon immer hier gelebt, sie seien die Nachkommen der biblischen Kanaaniter, sie wären immer friedlich gewesen und hätten nicht Kummer noch Harm gekannt, bis dieses grausame, gemeine Volk aus der Wüste kam, für das die Angehörigen anderer Völker keine Menschen seien. Das stünde ja sogar in ihrem Buch: Gewährt den Kanaanitern keine Gnade, vertilgt sie alle bis auf den Letzten. Und das würden sie auch tun, alle vertilgen, damals schon und heute auch.
    Pelagia hörte nicht ohne Interesse zu. In den Zeitungen stand, die einheimische Bevölkerung Palästinas sei über den Zustrom der Juden, welche das Gelobte Land immer dichter besiedelten, sehr beunruhigt, und wilde Araber berauben und drangsalieren die friedlichen Einwanderer. Es war interessant, den entgegengesetzten Standpunkt kennen zu lernen.
    Fast zweitausend Jahre haben wir ohne sie gelebt, und wie gut haben wir gelebt, jammerte Salach. Und jetzt sind sie plötzlich wieder aufgetaucht. Wie unscheinbar und bedauernswert waren sie doch. Wir haben sie freundlich aufgenommen, haben ihnen gezeigt, wie man das Land bestellt, wie man sich vor Hitze und Kälte schützt. Und was jetzt? Sie haben sich vermehrt wie die Mäuse und die Türken mit ihrem europäischen Geld bestochen. Das beste Land haben jetzt die Juden, und unsere Fellachen schuften bei ihnen als Tagelöhner für ein Stück Brot. Die Juden werden nicht eher Ruhe geben, als bis sie uns aus unserer Heimat vertrieben haben, weil wir für sie keine Menschen sind. So steht es in ihren Büchern. Sie haben grausame Bücher, nicht so wie unser Koran, der zur Barmherzigkeit gegenüber Fremden mahnt.
    Die Amerikaner hörten dem ganzen Lamento nicht besonders aufmerksam zu, weil sie unentwegt von irgendwelchen Sehenswürdigkeiten in Anspruch genommen waren (»Look, honey, isn’t it gorgeous!«), aber Pelagia hielt es irgendwann nicht mehr aus und platzte heraus:
    »Unser Koran?«, giftete sie böse. »Und wer hat mir gestern noch vorgelogen, er sei orthodox?«
    »Und wer hat gestern vorgelogen, dass versteht nicht Englisch?«, konterte Salach.
    Polina Andrejewna verstummte und tat den Mund bis zum Abend nicht mehr auf.
    In den Bergen kamen sie noch langsamer vorwärts, was vor allem an dem Kamel lag, das bei jeder dürren Diestel am Straßenrand, der es gelungen war, die karge Erdkruste zu durchstoßen, stehen blieb und ewig nicht wegzukriegen war. Erst als das bejammernswerte Tier begann, sich für die Blumen auf Polina Andrejewnas Hut zu interessieren, nahm die Reise spürbar an Tempo zu. Es war allerdings nicht besonders angenehm, ständig den feuchten, heißen Atem des Paarhufers im Nacken zu spüren. Einmal fiel ihr gar ein dicker Klecks klebriger Spucke in den Kragen, aber die Nonne ertrug stoisch alle diese

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