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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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viel Federlesens Bündel und Koffer auf die Schultern und ließen die Menschen um sie herum vollkommen unbeachtet.
    Der Steuermann Prokofi Sergejewitsch, mit dem sich die Lissizyna auf der Reise angefreundet hatte, erklärte ihr, dies sei so Usus in Jaffa: Das Entladen der Schiffe sei das Monopol zweier Clans arabischer Schauerleute, wobei der eine für die Passagiere, der andere für das Gepäck zuständig sei, und diese Aufteilung werde strengstens eingehalten.
    Die Pilgerweiber, von sehnigen Armen um die Taillen gefasst, leisteten kreischend und strampelnd Widerstand, und mancher der unverschämten Dreistlinge empfing ein beachtliches Quantum an Knüffen und Püffen, aber die Träger waren das wohl gewohnt und grinsten bloß.
    Kaum zwei Minuten später stieß schon die erste Barkasse vom Dampfer ab, randvoll mit verstörten Pilgern, und eine mit Quersäcken, Wasserkesseln und Pilgerstäben beladene Jolle sauste ihr hinterher.
    Genauso schnell war das nächste Boot gefüllt.
    Da sprang auch schon ein verschwitzter Eingeborener auf Polina Andrejewna zu und packte sie am Handgelenk.
    »Vielen Dank, ich möchte lieber selbst . . .«
    Weiter kam sie nicht – der unverschämte Bursche hatte sie geschwind über seine Schulter geworfen und kletterte schon das Fallreep hinunter. Die Lissizyna brachte nur ein leises Stöhnen heraus. Unter ihr wogte und blitzte das Wasser, der Träger hatte harte, aber zugleich erstaunlich sanfte Hände, sodass sie sich plötzlich genötigt sah, eine gewisse angenehme, jedoch ohne Zweifel sündige Regung in sich zu bekämpfen.
    Eine Viertelstunde später betrat die Sawolshsker Pilgerin palästinischen Boden – und ruderte erst einmal ganz undamenhaft mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Nach zwei Wochen auf See war sie festen Boden unter den Füßen nicht mehr gewohnt.
    Dann schützte sie die Augen mit der Hand gegen die blendende Sonne und schaute sich um.
    Hässlich und übel riechend
    Wie scheußlich es doch hier war!
    In kleinen russischen Städten ist es ja manchmal auch ganz furchtbar, so armselig und schmutzig und nichts als Elend, wohin man schaut; aber dort spiegelt sich in den Pfützen der Himmel, über den zerfallenden Dächern grünen die Bäume, und Ende Mai riecht es nach Flieder. Und wie still es ist! Du schließt die Augen, hörst den Wind in den Bäumen rauschen, hörst das Summen der Bienen, und ganz in der Nähe läuten die Glocken.
    Hier in Jaffa dagegen übermittelten ihr sämtliche Sinnesorgane ohne Unterlass nur Verdrießlichkeiten:
    Zunächst die Augen – weil sie ständig auf Berge von Fischinnereien, stinkenden Abfall und Lumpen aller denkbaren und undenkbaren, in jedem Fall vollkommen unpittoresker Art stießen. Außerdem taten sie weh von all dem Staub, und immerzu wollte man sie zusammenkneifen, weil das Licht so unerträglich grell war.
    Dann die Zunge – weil der allgegenwärtige Staub von der ersten Minute an zwischen den Zähnen knirschte, als hätte man den Mund voller Sandpapier.
    Die Nase – weil der Duft der Orangen, der Polina Andrejewna gerade noch so verlockend erschienen war, sich als einzige Chimäre erwies; entweder war dieser Duft überhaupt ein Produkt ihrer Einbildungskraft gewesen, oder er konnte der Konkurrenz der von allen Seiten auf sie eindrängenden Miasmen von Fäulnis und Unrat nicht standhalten.
    Und erst die Ohren! Kein Mensch hier im Hafen redete normal, ein jeder schrie, und zwar grundsätzlich so laut er konnte. In dem vielstimmigen Chor dominierten die Esel und Kamele, und über dieser ganzen Kakophonie schwebte der melancholische Bariton des Muezzin, der an der vergeblichen Aufgabe, dieses Babylon immer wieder an die Existenz Gottes zu gemahnen, offensichtlich längst verzweifelt war.
    Am schlimmsten aber drangsalierte sie der Tastsinn, denn kaum hatte Polina Andrejewna den türkischen Zoll passiert, rückten ihr von allen Seiten die Bettler und Schnorrer, die Hotelboten und Kutscher auf den Leib, und es war ganz unmöglich, auseinander zu halten, wer nun was war.
    So ein kleines trostloses russisches Städtchen hat etwas von einem schwindsüchtigen Saufaus, dem man mit einem mitleidigen Seufzer eine Kopeke geben möchte. Jaffa dagegen schien Polina Andrejewna halb wie eine Besessene, halb wie eine Aussätzige, vor der man nur Hals über Kopf davonlaufen möchte.
    Aber Frau Lissizyna nahm sich zusammen und ermahnte sich streng: Eine Nonne darf vor einem Aussätzigen nicht davonlaufen! Und um von all der

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