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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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geleistet«, sagte Pelagia unschlüssig, eine Bemerkung, die Berditschewski in diesem Zusammenhang nicht verstand (denn von der Existenz Fräulein Lissizynas wusste der Staatsanwalt natürlich nichts).
    »In diesem Fall entbinde ich dich von deinem Versprechen – vorübergehend. Du fährst als Lissizyna nach Sibirien, und da kleidest du dich um. Also sag schon, wohin willst du?«
    »Am liebsten möchte ich eigentlich nach Palästina«, erklärte die Schwester plötzlich. »Ich habe schon immer davon geträumt, ins Heilige Land zu pilgern.«
    Dieser unerwartete Einfall gefiel den beiden Männern.
    »Tatsächlich!«, rief Matwej Benzionowitsch aus. »Im Ausland ist es am sichersten.«
    »Außerdem bildet es«, nickte der Bischof. »Ich habe ebenfalls mein ganzes Leben lang davon geträumt, aber ich habe nie die Zeit dafür gehabt. Immerhin bin ich Mitglied der Palästinagesellschaft. Gut, fahre also nach Palästina, meine Tochter. In der Einsiedelei wärst du sowieso bloß trübsinnig geworden, ich kenne doch dein unruhiges Gemüt. In Palästina kannst du umherreisen, neue Eindrücke sammeln, da bemerkst du gar nicht, wie die Zeit vergeht. Ich werde an den Vater Archimandrit in der Mission schreiben und an die Abtissin des Gornenski-Klosters. Du reist als Pilgerin nach Palästina und wohnst dort im Kloster, bis Matwej den Bösewicht gefangen hat.«
    Und sogleich setzte sich der Bischof an den Tisch, um die Empfehlungsschreiben abzufassen – auf einem besonderen Briefbogen mit dem bischöflichen Signet.
    Alles wurde bis ins kleinste Detail geplant.
    Am Morgen brachte man Pelagia mit einem Sanitätswagen ins Hospital, für alle Leute gut sichtbar. Den Schülerinnen, die sie besuchen wollten, erklärte man, es gehe ihrer Lehrerin sehr schlecht, niemand dürfe zu ihr. In der Nacht schlüpfte die Nonne durch einen Hintereingang hinaus, und Berditschewski brachte sie zu einer kleinen Anlegestelle, fünfzehn Werst von der Stadt entfernt.
    Dort erwartete sie ein Kutter, auf dem die Konspirateure weitere fünf Werst zurücklegten. Dann gingen sie in der Mitte des Flusses vor Anker.
    Eine halbe Stunde später näherte sich ein hell erleuchteter Dampfer, der von Sawolshsk aus flussabwärts fuhr. Der Kutter gab ein Signal mit der Laterne, und der Kapitän, durch eine geheime Depesche in Kenntnis gesetzt, stoppte die Maschinen (ganz leise, ohne Geschrei und Gehupe, damit die Passagiere nicht aufwachten).
    Matwej Benzionowitsch half Pelagia das Fallreep hinauf. Zum ersten Male sah er sie nicht als Nonne, sondern als Dame, in Reisekleid, Hut und Schleier.
    Diese weibliche Tracht hatte seine Gedanken während der ganzen Fahrt vom Krankenhaus hierher in unerlaubte Fantasien abschweifen lassen. Immer wieder sagte er sich: »Sie ist eine Frau, sie ist einfach eine Frau.« Und in seinem Herzen loderte eine aberwitzige Hoffnung.
    Pelagia aber war mit ihren Gedanken irgendwo weit, weit weg.
    Als sie schließlich an Deck waren, spürte Berditschewski, wie sich ihm plötzlich das Herz zusammenkrampfte. Eine innere Stimme sagte traurig zu ihm: »Du wirst sie niemals wieder sehen, sag ihr Lebewohl.«
    Er geriet in Panik. »Fahren Sie nicht«, stotterte er. »Ich kann nicht . . .« Und auf einmal hatte er die rettende Idee. »Wissen Sie, vielleicht wäre es besser, Sie führen doch an die Angara? Der Bischof darf Sie natürlich nicht dorthin begleiten, aber ich könnte es. Anschließend mache ich mich sofort an die Untersuchung. Was halten Sie davon?«
    Und er stellte sich schon vor, wie sie zu zweit durch ganz Sibirien fahren würden. Er musste schlucken.
    »Nein, ich fahre nach Palästina«, murmelte die Reisende, immer noch geistesabwesend. Und halblaut, nur zu sich selbst, fügte sie hinzu: »Wenn es nur nicht zu spät ist. Es sind doch Mörder . . .«
    Was sie mit dem »zu spät« meinte, verstand Matwej Benzionowitsch nicht so ganz, aber der Schluss ihrer Bemerkung ernüchterte und beschämte ihn.
    Das Leben dieses ihm so teuren Wesens war in Gefahr. Und er sollte nicht davon träumen, mit seiner Herzensdame quer durch das weite Sibirien spazieren zu fahren, sondern die Missetäter aufspüren, und zwar so schnell wie möglich. Das war seine Pflicht!
    »Ich schwöre Ihnen, ich werde diese Banditen finden«, sagte der Staatsrat leise.
    »Ich glaube es«, antwortete Pelagia sanft, aber wieder ohne rechte Anteilnahme. »Nur will mir scheinen, dass es gar keine Banditen sind und es hierbei auch nicht um das gestohlene Geld geht . . . Aber das

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