Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
werden Sie sicher selber alles aufklären.«
    Der Kapitän, der den besonderen Fahrgast höchstpersönlich an Bord begrüßt hatte, drängte zur Eile:
    »Gnädige Frau, die Strömung treibt uns ab, und dort rechts sind Untiefen. Ich muss die Maschinen anwerfen lassen.«
    Berditschewski nutzte die Gelegenheit, Pelagia nicht im Habit, sondern im Kleid vor sich zu haben, und küsste ihr die Hand – beziehungsweise den kleinen Streifen weißer Haut, der unter ihrem Spitzenhandschuh hervorschaute.
    Sie berührte seine Stirn mit den Lippen und bekreuzigte ihn, dann stieg der Staatsanwalt das Fallreep hinunter, wobei er sich jede Sekunde umsah.
    Langsam versank die schlanke Silhouette in der Dämmerung, bis sie schließlich ganz mit der Dunkelheit verschmolz.
    Pelagia folgte dem Matrosen, der ihren Koffer trug. Kein Mensch war an Deck, nur unter dem Fenster des Salons döste irgendein Frischluftenthusiast, bis zur Nasenspitze in ein warmes Plaid gehüllt.
    Als die Dame in Kleid, Hut und Schleier an ihm vorbeiging, rührte sich der Vermummte und bewegte die Finger.
    In der Stille der Nacht hörte man ein trockenes, unangenehmes Knacken: Krrk-krrk.

TEIL ZWEI
    Hier und dort

VII
    Nur nicht zu spät kommen
    Schön und geheimnisvoll
    Kaum jemandem wird das Glück zuteil, das Gelobte Land schon beim ersten Anblick so schön und geheimnisvoll zu erleben, wie es in Wirklichkeit ist.
    Polina Andrejewna Lissizyna hatte Glück. Der Hafen von Jaffa, Palästinas Tor zum Meer, zeigte sich ihr nicht als graugelber Haufen aus Steinen und Staub, sondern wie eine schimmernde Weihnachtskugel. Es war wie in der Kindheit, wenn man sich heimlich nachts zur Tür der Stube schlich, in der der Weihnachtsbaum stand, und durch einen kleinen Spalt hineinlugte: Zuerst sah man gar nichts, aber auf einmal schimmerte etwas Rundes da in der Dunkelheit, etwas Glänzendes, Funkelndes, und das Herz zog sich zusammen in der Vorfreude auf das Wunder.
    So erging es ihr mit Jaffa.
    Wie sehr auch der Dampfer schnaufte und keuchte und mit den Radschaufeln patschte, er schaffte es trotzdem nicht, das ersehnte Ufer vor Sonnenuntergang zu erreichen. Der schwarze Himmel verschmolz mit den schwarzen Wassern, und die Passagiere, um die Vorfreude betrogen, schlurften betrübt unter Deck, um ihre Sachen zu packen. Zurück blieben nur Frau Lissizyna und die bäuerlichen Pilger, deren ganzes Gepäck aus einem bescheidenen leinenen Quersack, einem kupfernen Wasserkessel und dem Pilgerstab bestand.
    Aber es dauerte gar nicht lange, da taten sich die Pforten der Finsternis ein wenig auf. Zuerst entzündete sich ein einsames Licht, das aussah wie ein kleiner blasser Stern. Dann erschien ein zweites daneben, dann ein drittes und viertes, es wurde heller und heller, und bald rollte der güldene Apfel der Felsenstadt, übersät mit lauter Tüpfelchen aus mattem Licht, über den Horizont hinaus aufs Meer.
    Die Bauern fielen auf die Knie und beteten: Ihre Stirnen polterten so eifrig auf das Deck, dass Polina Andrejewna sich die Ohren zuhielt, um sich die Weihe dieses Augenblicks zu bewahren. Ein leichter Wind brachte vom Land her den schwachen Duft von Orangen herüber.
    »Japho«, sprach die Reisende laut den biblischen Namen des Hafens.
    Vor dreitausend Jahren waren die Zedern zum Bau von Salomons Tempel aus Phönizien hierher geflößt worden. In diesen Wellen verschluckte der Walfisch auf Geheiß des Herrn den unbotmäßigen Jonas; drei Tage und drei Nächte blieb er im Bauche des Wals.
    Der Dampfer verlangsamte die Fahrt, stoppte die Maschinen und ließ die Ankerkette niederrasseln. Dann stieß er ein lang gezogenes Tuten aus. Die Passagiere kamen an Deck gelaufen und schnatterten in allen Sprachen durcheinander.
    Der Zauber war gebrochen.
    Am Morgen sah man, dass der Dampfer eine halbe Werst vom Festland entfernt vor Anker gegangen war – wegen der Untiefen konnte er nicht näher heranfahren. Es ging ein heftiger Wind, und bis Mittag geschah nichts. Kaum aber hatte sich die See beruhigt, kam vom Ufer her eine ganze Flottille kleiner Boote mit wild wirbelnden Rudern herangesaust. Darin saßen dunkelhäutige Menschen, die Köpfe mit Lumpen umwickelt, die schreckliche Ähnlichkeit mit Seeräubern hatten.
    Im Nu war der Dampfer geentert. Die Piraten kletterten einer nach dem anderen das Fallreep hinauf an Bord und flitzten mit Furcht einflößender Geschwindigkeit über das Deck. Die einen schnappten sich die Passagiere und schleppten sie zur Reling, die anderen luden sich ohne

Weitere Kostenlose Bücher