Pelagia und der rote Hahn
Annäherungsversuche und gab nur von Zeit zu Zeit dem langlippigen Schädel einen Puff mit dem Ellenbogen.
Sie übernachteten in der arabischen Siedlung Bab al Wad, bei einem Onkel Salachs. Diese Nacht war noch bedrückender als die vorherige. In dem Zimmer, das man Frau Lissizyna zugewiesen hatte, gab es nichts als den nackten Lehmfußboden, und aus Angst vor Flöhen zögerte sie lange, sich darauf niederzulassen. »Aladins Wunderlampe« konnte sie auch nicht benutzen, denn an der Tür saßen zwei Frauen mit blauen Tätowierungen auf den Wangen und ein Mädchen, das in seinem zerzausten Haar eine Unmenge eingeflochtener Silbermünzen trug. Sie saßen in der Hocke, beobachteten den Gast und tauschten Kommentare aus. Das Mädchen rollte sich bald darauf wie eine Schnecke zusammen und schlief ein, aber die arabischen Matronen blieben bis kurz vor Sonnenaufgang wach und starrten die rothaarige Fremde an.
Am Morgen musste sie dann feststellen, dass die Amerikaner die Nacht auf die denkbar bequemste Art und Weise verbracht hatten. Den Ratschlägen der allgegenwärtigen Agentur »Cook« folgend, hatten sie nämlich im Garten zwei Hängematten angebracht und einfach »gorgeous« geschlafen.
Die Reise ging weiter, und die arme, übermüdete Pelagia wurde auf ihrem Sitz unbarmherzig hin und her geschüttelt; immer wieder nickte sie ein und wurde im nächsten Augenblick von den rauen Stößen des träge dahinpolternden Wagens wieder aus dem Schlaf gerissen. Dann blinzelte sie verständnislos auf die kahlen Hügel um sie herum, bis ihr das Kinn von neuem auf die Brust niedersank. Den Hut hatte sie längst dem Kamel überlassen, damit es sie endlich in Ruhe ließ, und sich den Kopf mit einem Gazetuch bedeckt.
Da, irgendwo an der Grenze zwischen Wirklichkeit und Schlaf, hörte sie plötzlich ganz deutlich eine Stimme, die traurig zu ihr sagte: »Du kommst zu spät.«
Ein heftiger Gram durchfuhr sie, und sie schrak hoch. Die Nebel des Schlafes lösten sich spurlos auf, das Hirn erwachte.
Was ist bloß mit mir los, habe ich vollkommen den Verstand verloren?, dachte Pelagia. Ich bin schon eine richtige Touristin geworden – die Eisenbahn war mir nicht gut genug, und dazu habe ich ganz umsonst einen Tag verloren. Was für eine unverzeihliche, geradezu frevelhafte Dummheit!
Ich muss mich beeilen. Ach, wenn wir doch schon in Jerusalem wären!
Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen, hob den Kopf und erblickte in der Ferne, auf einer Anhöhe wie im Dunste schwebend, eine Stadt.
Die himmlische Stadt
Das ist sie, die himmlische Stadt Jerusalem, dachte Pelagia, erhob sich halb von ihrem Sitz und griff sich an den Hals, als fürchtete sie, der Atem würde ihr versagen.
Augenblicklich waren Hitze und Staub vergessen und mit ihnen auch die geheimnisvolle Stimme, die die Pilgerin gerade noch aus der Erstarrung des Schlafes gerissen hatte.
Salach erklärte zweisprachig, er habe mit voller Absicht die Landstraße verlassen, um seinen Fahrgästen »Dscherusalem« in seiner ganzen Schönheit zu zeigen; die Amerikaner juchzten begeistert; die Ohren der Pferde zuckten; das Kamel knusperte unbeeindruckt die letzten Reste des Hutes auf, und Pelagia schaute wie verzaubert auf die in der flimmernden Luft schwirrende Stadt. Die Zeilen aus der »Offenbarung« fielen ihr ein: »Ich, Johannes, sah die Heilige Stadt, das neue Jerusa-lern, herniedersteigen aus dem Himmel von Gott her, wie eine Braut gekleidet, die geschmückt ist für ihren Mann. Sie hat eine mächtige, hohe Mauer mit zwölf Toren, und auf den Toren zwölf Engel. Die Grundsteine der Stadtmauer sind mit jeder Art von Edelsteinen geschmückt: der erste Grundstein ein Jaspis, der zweite ein Saphir, der dritte ein Chalzedon, der vierte ein Smaragd, der fünfte ein Sardonyx, der sechste ein Karneol, der siebente ein Chrysolith, der achte ein Beryll, der neunte ein Topas, der zehnte ein Chrysopras, der elfte ein Hyazinth, der zwölfte ein Amethyst. Die zwölf Tore sind zwölf Perlen, jedes einzelne Tor aus einer einzigen Perle. Der Platz der Stadt ist lauteres Gold, durchsichtig wie Glas.« Da ist er, der wichtigste Ort auf der Erde. Und es ist gut so, dass der Weg dorthin so beschwerlich und mühevoll ist. Diesen Anblick muss man sich durch Leid verdienen, denn das Licht leuchtet so hell nur für Augen, die von der Finsternis erschöpft sind.
Die Nonne ließ sich auf die Erde nieder, beugte die Knie und las einen Freudenpsalm: »Preise, meine Seele, den Herrn, und alles in mir, seinen
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