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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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heiligen Namen!« – aber zum Schluss erlaubte sie sich eine kleine Abweichung vom Text: »Und lehre mich, Herr, zu tun, was getan werden muss.«
    Der Hantur setzte sich wieder in Bewegung, Jerusalem entgegen. Die Stadt verschwand zunächst hinter einem Hügel, und als sie wenig später wieder sichtbar wurde, war sie frei von Dunst und hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit einer himmlischen Stadt.
    Sie kamen durch endlose, langweilige Straßen, die von ein-und zweigeschossigen Häusern gesäumt waren. Hier fühlte man sich nicht wie im Orient, sondern wie in irgendeinem europäischen Hintertupfingen, und wären da nicht die Schilder mit den arabischen Schnörkeln darauf und die orientalischen Kopfbedeckungen der Passanten gewesen, hätte man ohne weiteres glauben können, sich irgendwo in Galizien oder Rumänien zu befinden.
    Als sie am Jaffa-Tor ankamen, das in die Altstadt führt, war Polina Andrejewnas Laune restlos verdorben. Also wirklich, was soll das! Fiaker, »Credit Lyonnais«, ein französisches Restaurant, und da vorne sogar, o Schreck – ein Zeitungskiosk!
    Das amerikanische Paar stieg vor dem Hotel »Lloyd« aus und übergab das Kamel dem rotlivrierten Portier. Jetzt war Frau Lissizyna der einzige Fahrgast.
    »Ist das die Grabeskirche?«, fragte sie mit bebender Stimme und deutete auf eine von Zinnen gekrönte Mauer.
    »Ja, aber fahren wir nicht hin. Du bist ja Russin, also sollst du zu Migrasch a-russim, russische Herberge.« Salach machte eine unbestimmte Geste nach links.
    Der Hantur fuhr an der Stadtmauer entlang, und nach wenigen Minuten fand sich die Reisende auf einem kleinen Platz wieder, der wie von Zauberhand direkt aus Moskau hierher versetzt schien. Erschöpft von all den Bergen und Wüsten betrachtete die Nonne gerührt die Kuppel der orthodoxen Kirche, die unbestreitbar russischen Amtsgebäude und die Hinweisschilder mit den russischen Aufschriften: »Brotbäckerei«, »Teeküche«, »Volksspeisehaus«, »Fremdenherberge für Frauen«, »Sergijewo-Herberge«.
    »Auf Wiedersehen, gnädige Frau«, sagte Salach und machte zum Abschied einen Diener, der beinahe respektvoll geriet – wahrscheinlich erhoffte er sich ein Bakschisch. »Hier alle Leute von uns, russische Leute. Wenn du willst zurück nach Jaffa, oder anderswo, geh zu Damaskus-Tor und frag Salach. Jeder kennt.«
    Polina Andrejewna gab ihm kein Bakschisch – das hatte er nicht verdient, aber sie verabschiedete sich im Guten. Natürlich war er ein Schlitzohr, aber immerhin hatte er sie ans Ziel gebracht.
    Auch hier, wie im Hafen von Jaffa, stand für die Pilger ein Mitarbeiter des Fremdenkomitees zur Verfügung, der an exponiertester Stelle unter einem Sonnenschirm saß. Seine Aufgabe war es, Ankömmlingen die hiesigen Gepflogenheiten zu erklären, anfallende Fragen zu beantworten sowie gemäß Rang und der zur Verfügung stehenden Mittel Quartiere zuzuweisen: Arme Leute zahlten für Kost und Logis dreizehn Kopeken; man konnte sich aber auch mit allem Komfort unterbringen lassen, für vier Rubel.
    »Wie komme ich zum Vater Archimandrit?«, fragte Polina Andrejewna. »Ich habe ein Empfehlungsschreiben von Seiner Eminenz Mitrofani, dem Bischof von Sawolshsk.«
    »Seine Hochehrwürden ist nicht in der Stadt«, antwortete der Bedienstete, ein freundlicher Greis mit Eisenbrille. »Er ist nach Hebron gefahren, um sich ein Grundstück für eine Schule anzusehen. Ruhen Sie sich solange ein wenig aus, gnädige Frau. Wir haben ein Badehaus, sogar mit einer eigenen Abteilung für Adlige, und sehr gute Wäscherinnen, wenn gnädige Frau Ihre Wäsche zum Waschen geben möchten. Gnädige Frau können auch nach der Reise gern die Beichte ablegen, das tun sehr viele. Wir haben nicht einmal genug Platz in der Kirche, deshalb hat der Vater Archimandrit erlaubt, hier draußen im Garten Zelte als Beichtstühle aufzustellen, wie in urchristlichen Zeiten.«
    Und wirklich, unter ein paar Bäumen am Rande des Platzes standen vier Zelte, auf deren Spitzen jeweils ein goldenes Kreuz prangte. Vor jedem Zelt wartete eine Schlange: eine sehr lange, zwei kürzere, und vor dem vierten Zelt standen nur zwei einzelne Personen.
    »Woher kommt denn diese Ungleichmäßigkeit?«, fragte Pelagia neugierig.
    »Das ist, mit Verlaub, weil die Leut sich anstellen können, wo sie möchten. Die meisten möchten halt gern zum Vater Jannuari, der ist ja auch der heiligste Mönch in unserer ganzen Mission. Vater Martiri und Vater Kornili sind auch sehr beliebt bei den

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