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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Herrschaften Pilgern, obwohl, natürlich, nicht ganz so beliebt wie der Vater Jannuari. Und zum Vater Agapit, dort im letzten Zelt, da trauen sich nämlich nur ganz wenig Leut, allweil der ist arg streng und hat auch einen ganz unbeherrschten Charakter. Sie werden mir verzeihen, gnädige Frau«, sagte der Alte mit einer entschuldigenden Geste. »Ein Beichtstuhl ist allweil kein Hotel, da gibt’s keine Kategorien. Vor dem Herrgott sind wir alle gleich. Also, wenn Sie zum Vater Jannuari möchten, müssen Sie dort mit den einfachen Leuten warten, und ich sag Ihnen gleich, das sind gut und gern vier Stunden in der Sonnenglut, zum wenigsten! Einige der Herrschaften Pilger bezahlen jemanden, damit er dort für sie Schlange steht, aber ich sag Ihnen gleich, das ist eine Sünde, weiß Gott.«
    »Ist ja nicht schlimm«, sagte Polina Andrejewna leichthin, »ich beichte dann später, wenn die Hitze vorbei ist. Vielleicht könnten Sie mir bis dahin schon ein Quartier zuweisen, bitte.«
    In diesem Moment erklang aus dem Beichtstuhl, der bei den Pilgern am wenigsten gefragt war, ein Schrei. Die Zeltwände wackelten kurz, und ein schwarzhaariger Herr mit Brille kam mit einem solchen Schwung nach draußen gesaust, dass er auf dem Rasen beinahe gestrauchelt wäre. Anscheinend war der Bebrillte aus dem Hort des Sakramentes, wie man sagt, hochkant rausgeworfen worden.
    Die Zeltbahnen taten sich nochmals auf, ein zerzauster Pope mit purpurrotem, wutverzerrtem Gesicht kam zum Vorschein und brüllte dem Beichtling nach:
    »Geh doch zu deinen Itzigs! Geh nach Row-Ga-Iudi! Sollen diese Judasse dir doch die Beichte abnehmen!«
    »Da, sehen Sie?«, stöhnte der Greis vom Fremdenkomitee bekümmert. »Da geht’s schon wieder los!«
    »Was ist denn Row-Ga-Iudi?«, fragte Polina Andrejewna und sah den zornigen Alten mit gespannter Aufmerksamkeit an.
    »Das ist das alte jüdische Viertel. Es gibt vier Quartiere in der Altstadt, dort hinter der Stadtmauer . . .«
    Aber Pelagia hörte schon nicht mehr zu – sie tat ein paar Schritte auf die Zelte zu, als fürchtete sie, auch nur ein Wort von dem Streit zu verpassen.
    Der schwarzhaarige Herr hatte sich von seinem ersten Schreck erholt und begann jetzt ebenfalls zu schreien:
    »Was unterstehen Sie sich! Ich bin getauft! Ich werde mich beim Vater Archimandrit über Sie beschweren!«
    »Getauft!«, feixte der Beichtvater spöttisch und spuckte aus. »Der Jude ist wie der Teufel, heißt es im Volksmund. Er tut niemals Buße. Und dann sagt man noch: ›Tauf den Juden, und dann ab unters Eis mit ihm!‹ Pfui über dich! Pfui! Weiche von mir!«
    Und er begann den Bebrillten mit solchem Ingrimm zu bekreuzen, als wollte er mit den zusammengelegten Fingern auf ihn einschlagen, zuerst auf die Stirn, dann auf den Bauch, und als Zugabe auf das linke und das rechte Schlüsselbein. Der solcherart Bedrohte wich erschrocken zurück, dann drehte er sich um und verließ unter Schimpfen und wütendem Aufschluchzen fluchtartig das Schlachtfeld.
    Diese Szene machte auf die beiden Pilger, die vor Vater Agapits Zelt gewartet hatten, starken Eindruck. Sie traten schleunigst den Rückzug an – der eine verdrückte sich in die Reihe von Vater Martiri, der andere in die von Vater Kornili.
    »Warten Sie«, rief der Alte Polina Andrejewna zu. »Ich zeige Ihnen, wo sich die Herberge für die Pilgerinnen von vornehmem Stand befindet.«
    »Danke. Aber sehen Sie, man muss gerade nicht Schlange stehen, ich werde wohl doch zuerst die Beichte ablegen«, entgegnete Pelagia.
    Der eingebildete Brachykephale
    Während die Pilgerin noch die Formel »Ich bekenne meinem Herrn und Euch, Vater, alle meine Sünden« aufsagte, fragte der Geistliche schon:
    »Warum haben Sie rote Haare?«
    Polina Andrejewna sperrte wenig pietätvoll den Mund auf – so sehr versetzte sie die Frage in Erstaunen.
    Vater Agapit runzelte die Brauen und fragte weiter:
    »Sie sind doch nicht womöglich eine Konvertitin?«
    »Nein«, versicherte die Beichtende. »Mein Ehrenwort!«
    Aber mit einem einfachen »Ehrenwort« ließ sich der Priester nicht abspeisen.
    »Ist vielleicht Ihr Vater ein Kantonist? Haben Sie jüdisches Blut, von väterlicher oder mütterlicher Seite her? Wer rote Haare hat, ist auch ein Jude.«
    »Was sagen Sie da, Vater, ich bin eine echte Russin. Höchstens mein Urgroßvater . . .«
    »Was denn, der war wohl ein kleiner Jude?«, sagte der Beichtvater und kniff die Augen zusammen. »Aha! Ich habe gute Augen!«
    »Nein, er kam aus England, vor

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