Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pelagia und der schwarze Moench

Pelagia und der schwarze Moench

Titel: Pelagia und der schwarze Moench Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
ihren Arm schwenkte. Dieser weiß auf schwarz beschriebene Kreis erinnerte Felix Stanislawowitsch an den Flügelschwung eines verletzten Vogels.
    Bis ins Innerste aufgewühlt rief er:
    »Ich weiß nicht, welches Unglück Ihnen widerfahren ist, doch mein Wort als Offizier – ich werde alles für Sie tun! Alles! Erzählen Sie!«
    »Fürchten Sie sich auch nicht?« Sie blickte ihm forschend ins Gesicht. »Ich sehe, dass Sie tapfer sind.«
    Unvermittelt wandte sie sich ab, und ihr weißer, zarter Nacken befand sich direkt vor Lagranges Augen. Der Oberst hätte gerne seine Lippen darauf gepresst, doch er wagte es nicht. So viel zu seiner Tapferkeit.
    »Da ist ein Mann . . . Ein furchtbarer Mann, ein echtes Ungeheuer. Er ist der Fluch meines Lebens.« Die junge Dame sprach langsam, als bereite ihr jedes Wort Mühe. »Ich werde Ihnen seinen Namen vorläufig nicht nennen, ich kenne Sie noch zu wenig . . . Sagen Sie mir nur, ob ich mich auf Sie verlassen kann.«
    »Das steht außer Zweifel«, erwiderte der Polizeimeister, der sich sogleich wieder gefangen hatte. Ein Schuft, der ein armes Mädchen quält – damit würde er schon fertig werden. Wenn er erst Oberst Lagrange kennen lernt, wird er weich wie Butter. »Ist er hier, dieser Mann? Auf der Insel?«
    Sie sah sich nach Felix Stanislawowitsch um und gab ihm Gelegenheit, ihr gemeißeltes Profil zu bewundern. Sie nickte.
    »Ausgezeichnet, gnädige Frau. Morgen muss ich einen Doktor hier in der Stadt aufsuchen, einen gewissen Korowin, sowie einen seiner Patienten. Aber von übermorgen an stehe ich vollkommen zu Ihrer Verfügung.«
    Die junge Dame wandte sich nun ganz zu Lagrange um und schüttelte den Kopf, als könne sie es nicht recht glauben oder als sei sie im Zweifel. Nach einer langen Pause (wie lange sie dauerte, ist schwer zu sagen, weil Felix Stanislawowitsch unter ihrem flirrenden Blick erstarrte und das Zeitgefühl verlor) bewegten sich die zarten Lippen und wisperten:
    »Nun denn, umso besser.«
    Mit einem Ruck zog sie den Handschuh aus, um ihm mit einer majestätischen Geste die Hand zum Kuss hinzuhalten.
    Der Oberst beugte sich über die wohl riechende, unerwartet warme Haut. Von der Berührung wurde ihm schwindlig – auf ganz natürliche Weise, wie nach ein paar Glas Rumpunsch.
    »Das reicht«, sagte die junge Dame, und Lagrange wagte wiederum nicht, eigenmächtig zu handeln. Er wich sogar zurück. Hatte er das nötig?
    »Wie . . . Wie heißen Sie?«, fragte er heftig atmend.
    »Lidia Jewgenjewna«, antwortete sie zerstreut, während sie auf den Oberst zutrat und über seine Schulter hinweg blickte.
    Felix Stanislawowitsch drehte sich um. Sie standen unmittelbar am Rand des Felsens. Noch einen Schritt zurück, und er würde den steilen Abhang hinunterstürzen.
    Lidia Jewgenjewna stöhnte auf:
    »Ich halte es hier nicht mehr aus! Dahin, ich will dahin!«
    Mit einer weit ausholenden Gebärde deutete sie auf den See, vielleicht auch auf den Himmel. Oder auf die große Welt, die hinter den dunklen Wassern verborgen lag?
    Der Handschuh entglitt ihren Fingern, beschrieb eine elegante Spirale im leeren Raum und schwebte in die Tiefe. Schulter an Schulter beugten sie sich vor und erblickten tief unten auf einem Felsvorsprung ein kleines weißes Etwas, das leicht im Winde flatterte.
    »Muss ich wirklich hinunterklettern?« Der Polizeimeister zuckte in Gedanken zurück, doch seine Finger knöpften bereits ganz von selbst das Jackett auf.
    »Eine Kleinigkeit«, erklärte Felix Stanislawowitsch munter, in der Hoffnung, sie werde ihm Einhalt gebieten. »Ich hole ihn gleich.«
    »Ja, ich habe mich nicht in ihm getäuscht.« Lidia Jewgenjewna nickte bestätigend, woraufhin der Oberst nicht bloß hinunterklettern, sondern sich schwalbengleich hinunterstürzen wollte. Angst schien es nie gegeben zu haben.
    Sich am Wurzelwerk festklammernd, vorsichtig mit den Füßen Steine und kleinste Vorsprünge ertastend, begann er den Abstieg. Zweimal wäre er beinahe abgestürzt, doch der Herr beschützte ihn. Das flatternde, schmale Stück Stoff kam immer näher. Gut, dass der Handschuh nicht bis ganz nach unten geflogen, sondern auf der Hälfte des Abhangs hängen geblieben war.
    Da war es ja, das teure Stück!
    Lagrange streckte sich vor und steckte die seidene Trophäe in seinen Ausschnitt. Er blickte empor. Bis zur oberen Felskante war es ein gutes Stück, aber das machte nichts – hinaufklettern war einfacher als hinunter.
    Es dauerte noch eine Zeit, bis er völlig verdreckt,

Weitere Kostenlose Bücher