Pelbar 1 Die Zitadelle von Nordwall
können. Er ist gestrickt, aber so fein, daß nicht einmal eine Maus die Nadeln hätte halten können.«
Tia lachte nervös, aber Jestaks Furchtlosigkeit und ihre eigene Neugier halfen ihr, ihre Shumai-Gefühle in bezug auf Totenstätten zu überwinden, und brachten sie so weit, daß sie ihm half. Sie verbrachten einen großen Teil des Tages damit, den Raum zu untersuchen. Jestak staunte immer mehr. Das Pult war aus Metall, aber wie von einer gewaltigen Kraft geformt, die kein Mensch und keine Handpresse hätten ausüben können. Nirgends gab es Waffen. Sie fanden verschiedene Schreibgeräte, für Tinte, weiße und gel-be Stückchen aus einem weichen Stein für die dunkle Wand und Röhrchen aus Holz, in denen etwas eingeschlossen war, was graue Linien machte. Überall lag zerfallendes Papier. Als sie ganz vorsichtig die Bü-
cher öffneten, fanden sie Bilder von einer Welt abge-druckt, die ihnen völlig fremd war.
»Wie haben sie das nur gemacht?« fragte Jestak.
»Schau. Schau dir nur ihr Glas an! Was ist das für ein helles Metall? Ich habe es noch nie gesehen. Es ist in der ganzen Zeit überhaupt nicht gerostet.« Er war fast überwältigt von soviel wunderbaren Dingen. »Tia, jetzt müssen wir unbedingt hier rauskommen und zurückkehren. Das ist ein Wunder, das nur wenige Menschen gesehen haben. Eine ganze Welt muß zur Zeit des Feuers zerstört worden sein, und nur wenige Leute haben sie je gesehen oder wissen davon. Wir müssen einige Dinge mitnehmen – diese Glasflasche, das fremde Metall, und was ist das da an der Wand?«
Er streckte die Hand aus und berührte einen Gegenstand, der an der Wand befestigt war. Unter seiner Berührung löste er sich ab. Jestak setzte sich auf den Boden und beschäftigte sich lange Zeit damit. Ein Teil löste sich in seinen Händen auf. »Im Inneren ist Holz«, sagte er. »Winzige Späne. Und schwarzes Pulver.« Nach einiger Zeit sagte er: »Es ist vielleicht von diesen Schreibwerkzeugen, sogar etwas Farbe ist dabei. Siehst du? Gelb.« Er studierte das Gerät weiter.
Als er die Kurbel am Ende ein paarmal bewegte, merkte er, daß sie sich drehen ließ, wenn auch schwer, weil sie verrostet war. »Sieh dir die Befestigungen an«, sagte er. »Ich habe so ähnliche in Innanigan gesehen. Aber was für eine Arbeit, sie zu machen – es sei denn, sie kennen eine Möglichkeit, diese regelmäßigen Rillen in Rundbolzen zu schneiden, auf die wir noch nicht gekommen sind.«
Die beiden gingen zu anderen Dingen weiter, aber schließlich hielt Jestak inne und schaute sich noch einmal das sonderbare Gerät an, das er gefunden hatte. Er kletterte in das Loch hinauf, brach einen kleinen, toten Kiefernzweig ab, kam wieder herunter und steckte ihn in das Loch. Dann drehte er die Kurbel. Sie knirschte, klemmte, bewegte sich wieder. Er nahm den Zweig heraus und sagte zu Tia: »Schau! So haben sie ihre Schreibstöcke geschärft, wenn sie sich abgenützt hatten. Siehst du?«
Tia fühlte sich nicht wohl, wenn sie die kleinen, überall verstreuten Skelette anschaute. »Jestak, das ist so unsagbar traurig. Sieh sie dir nur an. Ist das denn überall im ganzen Land passiert, mit allen Menschen, sind alle ihre Träume und Versprechungen einfach ausgelöscht worden wie Rinderblut, das im Sand ver-sickert? Wie war das möglich? Es ist zu schrecklich.
Wie konnte Sertine das zulassen?«
»Sie müssen soviel gewußt haben«, erwiderte er, »daß sie einen Weg fanden, alles auf einmal zu ver-nichten. Aber sie haben nichts anderes getan als der Krugistoran, und die Emeri tun es noch immer. Sie zwingen anderen Menschen ihren Willen auf. Vielleicht können die Menschen darüber nicht hinaus-wachsen.«
Jestak wollte länger bleiben, zwei Tage vielleicht, aber sie wußten, daß ihre Lage zu unsicher war, um das zuzulassen. »Heute nacht müssen wir laufen«, sagte er. »Vielleicht können wir zwei Pferde bekommen.«
»Das Risiko wäre zu groß, Jestak. Vielleicht nicht, wenn wir gut reiten könnten. Komm, schlaf jetzt, damit wir bereit sind. Es ist auch noch ein wenig Fleisch da, falls du noch Hunger hast.« Sie aßen und legten sich wieder nieder, aber keiner konnte schlafen angesichts all dieses Schweigens und der kläglichen Knochen der Kinder aus der alten Zeit, denen man nicht nur das Versprechen ihres eigenen Lebens geraubt hatte, sondern die ganze Welt, die damals existierte.
»Sie sind also unser Volk, Jes. Sieh sie dir an! Sie sind wir. Ich glaube dir jetzt. Es gibt keine Pelbar, keine Emeri,
Weitere Kostenlose Bücher