Pelbar 4 Der Fall der Muschel
allem möglichen fragen. Keine Angst. Sag ihnen einfach alles. Ist egal. Jetzt bist du drin. Raus kommen wir nie mehr. Du bist jetzt lebenslänglich drin.«
Gamwyns Hoffnung sank wieder, nachdem ihn das Essen und der Rauch in bessere Stimmung versetzt hatten. Er war schläfrig, wußte aber, daß er über seine Lage nachdenken mußte, ehe er sich schlafen legte.
Obwohl er anscheinend immer wieder einnickte und aufwachte, war er über längere Zeitspannen geistig wach und legte seine Richtung fest, seinen Hand-lungsplan, dachte er, eine Anleihe bei Craydors Ter-minologie. Erstens würde er sich nie damit abfinden, daß er ein Sklave war. Er würde jede Gelegenheit wahrnehmen, den Tuscos einen Strich durch die Rechnung zu machen, aber niemals um den Preis übermäßiger Gefahr für sich selbst. Niemals würde er seine Mitgefangenen verraten. Er würde irgendwie versuchen, unbemerkt davonzuschlüpfen, aber wenn das nicht möglich war, war er bereit, das ganze, falsche System zu unterminieren.
Er dachte an sein Gespräch mit Sagan, der Protektorin von Pelbarigan zurück. Sie hatte ihm gesagt, der Unterdrückte hätte das Recht, den Unterdrücker zu belügen. Oder nicht? Im Rückblick war er sich nicht mehr so sicher. Hatte er dieses Recht, oder war er ihnen die Wahrheit schuldig? Aber der Wunsch zu fliehen war doch selbst eine Lüge. Dann hatte er also das Recht, würde jedoch nur sehr umsichtig davon Gebrauch machen. Er würde sich damit nicht in Gefahr bringen.
Er erinnerte sich an einen verbitterten alten Diener in Threerivers, einen großen, hageren Mann, der sich einst Gamwyn anvertraut hatte, als sie zusammen in einem Sondertrupp zur Uferbefestigung arbeiteten.
Der Alte hatte heftig den Unterarm des Jungen gepackt, ihn starr angeschaut und gezischt: »Hör zu und vergiß nie, was ich dir sage! Wir leben in der schlimmsten Unterdrückergesellschaft. Vergiß das nicht! Denk immer daran! Stell dich ihnen nicht offen in den Weg! Sie sind an der Macht, diese erzkonservativen, dummen, alten Weiber. Tu, was sie verlangen, aber tu es langsam, stell dich dumm und führe dein eigenes Leben, nur für dich! Nicke und nimm es hin, wenn sie dich beschimpfen! Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Du hast eine Familie. Ich nicht.
Du hast Hilfe. Du bist jung und hast die Feindseligkeit der Außenstämme nicht zu fürchten. Auch das wird dir helfen. Aber die Heilung wird es nicht bringen. Denke daran! Lebe unter ihnen wie ein Spion!
Du brauchst sie nicht zu achten, auch wenn du dich ihnen fügst! Es gibt Möglichkeiten, selbst zur Erfüllung zu gelangen.« Der Alte hatte kräftig in den Schnee gespuckt, sich dann noch einmal umgedreht und nochmal gesagt: »Denk immer daran!«
Gamwyn glaubte nicht, daß der Mann in bezug auf Threerivers recht hatte. Die Lage dort war gar nicht so schlecht. Vielleicht hatte sich der Alte selbst eine Atmosphäre der Spannung und Bitterkeit geschaffen.
Aber jetzt, wo Udge an der Macht war, hatte sich wirklich alles verändert. Vielleicht hatte der alte Diener das schon kommen sehen. Er war insgeheim auch Ornithologe. Er wußte ungeheuer viel über die Vögel im Gebiet um Threerivers, sowohl über die Zugvögel wie über die Einheimischen. Er zeigte Gamwyn einmal seine Notizbücher mit Skizzen – endlose Beob-achtungen, in einer winzigen, sauberen Handschrift niedergelegt. Der Junge hatte ihm schwören müssen, darüber zu schweigen. Die Frau, für die er arbeitete, wenn er nicht mit Sondertrupps hinausgeschickt wurde, wußte nichts von seinem Hobby, sondern hielt ihn lediglich für einen dummen alten Mann.
Gamwyn wußte, daß er selbst ganz unmittelbar zwei Probleme hatte. Erstens mußte er anonym werden, indem er die formlose Kleidung der Sklaven an-zog. Zweitens mußte er den Rauch irgendwie meiden. Er sah, was für eine lähmende Wirkung er auf die anderen hatte, wie er sie gegenüber den Tatsachen ihrer Lage abstumpfte. Gamwyn besaß die für die Pelbar charakteristische Bewunderung für geistige Klarheit, eine Einstellung, die dieses Volk bewog, alle Mittel zur Stimulierung von Fröhlichkeit zu meiden, wenn sie zur Berauschung führten, selbst bei festlichen Gelegenheiten und Feiern. Unmäßigkeit zu meiden war ein Teil von Craydors Kodex. ›Seht es nicht als Gleichgewicht‹, hatte sie geschrieben, ›obwohl es in gewissem Sinne Gleichgewicht ist, mäßig zu leben, weder zuviel noch zuwenig zu essen. Seht es als die Harmonie des Pelbarchores, in dem jede Stimme zum Gesamteindruck
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