Pellkartoffeln und Popcorn
von einem Polizisten erwischt; aber der war gerade außer Dienst und fror ebenfalls. Erst drückte er beide Augen zu, dann scheuchte er seinen vierjährigen Sohn vom Schlitten und belud ihn mit armdicken Ästen, die Mami ihm höflich angeboten hatte.
Ein anderer Polizist, diesmal in Uniform und mit Hund, zeigte sich weniger bestechlich, zückte Bleistift und Notizbuch und notierte die Personalien. Eine Anzeige haben wir nie bekommen. Vielleicht deshalb nicht, weil die Polizei in der Onkel-Tom-Straße Nr. 71 vergeblich nach einer Familie Steinbrink geforscht hat…
Normalerweise wird Brennholz erst monatelang gelagert, bevor es trocken ist und verheizt werden kann. Wir lebten aber von der Hand in den Mund bzw. vom Hackklotz in den Ofen; und so wurden die nassen Holzscheite hinter den Kachelöfen aufgestapelt, damit sie wenigstens ein bißchen trocknen konnten. Wochenlang stank es in der ganzen Wohnung nach feuchtem Holz, und manchmal zischte es richtig, wenn wir wieder eine neue Ladung in die Flammen warfen. Außerdem qualmte es dann immer munter aus der Ofentür, wir mußten die Fenster aufreißen, aber mit dem Qualm zog auch die Wärme ab, weshalb die Frischluftzufuhr jedesmal auf ein Minimum beschränkt wurde. Ob man nun ein Kleid aus dem Schrank nahm oder ein Handtuch, war egal: alles roch nach Rauch. Am Ende der Heizperiode kamen wir uns vor wie gut abgehangene Räucherheringe.
Aber wir hatten den Winter überlebt.
27
Weihnachten! Das Fest des Friedens und der Familie. Den Frieden hatten wir ja nun, oder doch wenigstens eine Abart. Von Familie konnte bei vielen noch nicht die Rede sein. Keiner der uns bekannten Vaterlandsverteidiger war bisher zurückgekommen; aber die meisten lebten wenigstens. Vati hatte einen Weihnachtsgruß aus Kanada geschickt, Herr Hülsner und Herr Brüning saßen in russischer Gefangenschaft, und Bennichs Söhne hatten sich inzwischen aus England gemeldet.
Dafür waren aber im Gefolge der Amerikaner unsere Flüchtlinge zurückgekommen. Der erste war Herr Zillig, der sich rechtzeitig aller militärischen Aufgaben entledigt und den Zusammenbruch als Zivilist überstanden hatte. Eines Tages stand er vor der Tür, fand Wohnung, Zimmerlinde und Hausgemeinschaft unversehrt vor und beschloß, seine Familie unverzüglich wieder umzusiedeln.
»Weiß du, Reni, mit seinen Schwiegereltern versteht man sich am besten, wenn sie hundert Kilometer weit weg wohnen!«
Jutta war inzwischen acht und ein mächtiges Stück gewachsen, und auch aus Sabinchen war jetzt eine Sabine geworden. Tante Käte hatte sich überhaupt nicht verändert. Als erstes pumpte sie sich Holz und Kohlen, dann Brot und Marmelade und schließlich einen halben Kubikmeter Gas, weil bei ihr noch alles abgeschaltet war. Das Gas ließ sich aber nicht transportieren, deshalb wurde bei Omi gekocht (wir standen schon wieder in Soll!).
»PW macht das schon«, versicherte Tante Käte, »in ein paar Tagen habt ihr alles zurück.«
PW hieß eigentlich Paul-Werner; aber ich kann mich nicht erinnern, daß er jemals so gerufen wurde. PW organisierte Holz, bereits zerkleinert und getrocknet; PW besorgte Kohlen, die nach Onkel Pauls fachkundiger Meinung von der Deutschen Reichsbahn stammten und eigentlich als Lokomotivfutter gedacht waren; PW schaffte Lebensmittel heran und ein Kaninchen, das munter in einem Drahtkäfig müm- melte und demnächst als Weihnachtsbraten auf den Tisch kommen sollte. Als es dann soweit war, fand sich niemand, der das Tier schlachten wollte, und so ist es erst Jahre später an Altersschwäche eingegangen. Im Sommer saß es auf dem Balkon, im Winter kam es in den Keller; das Futter holten wir von der Rodelbahn. Im Gegensatz zu uns war Kasimir immer gut genährt.
Nun stand also Weihnachten vor der Tür. Seit fünf Jahren das erste Weihnachten ohne Krieg und Bomben, ohne Angst und ohne Lebensgefahr; aber auch ohne Heizung, ohne Strom, ohne Essen und ohne Weihnachtsbaum. Jedenfalls für die meisten Deutschen. Bäume konnte man nicht mal auf dem schwarzen Markt bekommen, weil man sie nicht in einer Tasche verstecken konnte, und Kerzen gab es schon gar nicht. Die derzeitige Konjunktur hatte die Preise ohnehin in die Höhe getrieben. Außerdem feierten auch Schwarzhändler Weihnachten… jedenfalls bedauerte Frau Wildenhof außerordentlich, aber vor dem Fest seien leider keine Kerzen mehr zu haben. Ab Januar jederzeit und in beliebiger Menge!
Mami gab nicht auf. Das Kind war schließlich noch nicht ganz zwölf Jahre alt
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