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Pellkartoffeln und Popcorn

Pellkartoffeln und Popcorn

Titel: Pellkartoffeln und Popcorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Sanders
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und sogar verstanden, was man nicht so unbedingt von allen lyrischen Werken behaupten konnte, mit denen uns deutsche Klassiker auf dem Umweg über Fräulein Leibnitz beglückten.
    Frühling bedeutete Sonne und Wärme, also keine zu Wintermänteln umfunktionierten Wolldecken mehr und keine verqualmten Zimmer. Frühling bedeutete frischen Löwenzahn und junge Brennesseln. Mami bedauerte zutiefst, daß der Genuß dieses Grünzeugs nicht die bei Rindviechern übliche Milchproduktion zur Folge hatte. Frühling bedeutete der erneute Versuch, mangelnde gärtnerische Talente durch doppelte Energie auszugleichen – Tante Else wollte es in diesem Jahr mal mit Frühkarotten und Kohlrabi probieren. Und Frühling bedeutete nicht zuletzt geregelten Schulunterricht. Wir pilgerten zwar immer noch eine Woche vormittags, eine Woche nachmittags in unser Luisen-Stift; aber wir saßen jetzt wenigstens wieder unsere fünf oder sechs Stunden ab. Die Lehrer schienen teilweise noch halb im Winterschlaf zu liegen oder bereits von Frühjahrsmüdigkeit befallen zu sein; den Schülern erging es ähnlich; und so lief der Lehrbetrieb in den eingefahrenen Gleisen weiter. Niemand überanstrengte sich, keiner tat mehr, als er unbedingt mußte; wir rappelten uns höchstens während der Englischstunden auf, weil Frau Dr. Müller-Meiningen ziemlich biestig werden konnte.
    Aber dann kam Quasi. Natürlich hieß sie ganz anders, aber wir bekamen ziemlich schnell mit, daß ihr Lieblingswort ›gleichsam‹ war und häufig wiederholt wurde. Eine in sporadischen Abständen geführte Strichliste ergab einen Mittelwert von 29 mal ›gleichsam‹ pro Stunde, und so hatte Quasi ihren Spitznamen weg. Brigitte hatte uns schon gewarnt. Eines Nachmittags war sie kreidebleich ins Klassenzimmer gestürzt und sprudelte entsetzt hervor: »Ich glaube, eben bin ich auf dem Gang der Cornelius über den Weg gelaufen. Wenn wir die kriegen, dann gute Nacht. Die kenne ich noch von der Kindlandverschickung!«
    »Wie alt?« wollte Irene wissen.
    »Keine Ahnung, schätze, so Ende Dreißig.«
    »Na Mahlzeit! In dem Alter sind sie am schlimmsten. Der frühere Idealismus ist schon flötengegangen, die Resignation noch nicht eingetreten. Dazwischen wollen sie dann meistens die Welt verändern. Aber wir müssen ja nicht gleich mit dem Schlimmsten rechnen, vielleicht bleibt sie uns erspart.«
    Der Optimismus war verfrüht. Am nächsten Tag rauschte Frau Rothe ins Klassenzimmer, im Kielwasser ein uns noch unbekanntes weibliches Wesen. »Guten Tag, Kinder, setzt euch bitte. Ich freue mich, euch ein neues Mitglied unseres Kollegiums vorstellen zu können. Frau Studienrätin Doktor Cornelius wird bis auf weiteres in dieser Klasse den Deutsch- und Geschichtsunterricht übernehmen. Ich hoffe, ihr werdet ihr die Eingewöhnung nicht zu schwer machen und entsprechend mitarbeiten.«
    Damit schwebte sie hoheitsvoll von dannen und ließ 32 leicht angeschlagene Schülerinnen zurück. Quasi schrieb indes schwungvoll und nahezu unleserlich ihren Namen an die Tafel. Dann stellte sie sich gelassen unserer interessierten Musterung. Was wir sahen, wirkte keineswegs furchterregend und ließ uns an Brigittes wortreichen Schilderungen der uns erwartenden Schrecken zweifeln: Mittelgroß, braune Schuhe, brauner Rock, brauner Pullover, braune Augen, braune kurzgeschnittene Haare, mokantes Lächeln…
    »Wer ist Klassensprecher?«
    Irene erhob sich gemächlich und bekam den Auftrag, die Diktathefte auszuteilen.
    »Die hat Fräulein Leibnitz.«
    »Dann schreibt auf einen Zettel!«
    »Ha’m wir nicht!« »Woher denn nehmen?« – »Mein Heft ist sowieso schon fast voll!«
    Irene bequemte sich, den anscheinend ahnungslosen Neuling über die derzeit herrschende Papierknappheit aufzuklären und die damit verbundene Schwierigkeit, Hefte aufzutreiben. Quasi zeigte sich unbeeindruckt. Sie entnahm ihrer Tasche zwei nagelneue Schreibhefte, zerlegte sie in ihre Bestandteile und verteilte die einzelnen Seiten. Und dann ging es los: Wir bekamen einen Text vorgesetzt, der nur so von Fallgruben wimmelte, gespickt mit Fremdwörtern und heruntergerasselt in einem Tempo, das uns ziemlich schnell kapitulieren ließ. Schließlich waren wir doch von Fräulein Leibnitz gewöhnt, daß sie uns jeden Satz dreimal vorlas, ihn in einzelne Abschnitte gliederte, gewissenhaft jedes Komma diktierte und besonders schwierige Wörter auf allgemeinen Wunsch an die Tafel schrieb. Und plötzlich erwartete die Neue von uns offensichtlich, daß wir

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