Pellkartoffeln und Popcorn
mußte vor zwei Wochen seine Koffer packen und saß jetzt irgendwo im Warthegau. Ich war als einzige übriggeblieben.
Drei Tage vor meiner Abreise kam Vati. Man hatte ihm die bevorstehende Auswanderung seiner Tochter feldpostbrieflich mitgeteilt; und irgendwie hatte er es geschafft, noch rechtzeitig Urlaub zu bekommen.
Da stand er nun plötzlich vor mir, ein bißchen fremd, braungebrannt, mit abgewetzter Uniform, aber nagelneuen Unteroffizierslitzen auf den Achselklappen. Ich war maßlos stolz auf seine Beförderung. »Was passiert denn jetzt, wenn du Herrn Molden triffst?«
Mümmchens Vater hatte auch gerade Urlaub, war aber immer noch Obergefreiter.
»Was soll denn passieren?«
»Na, er muß dich doch nun zuerst grüßen, schließlich bist du jetzt sein Vorgesetzter!« Vati lachte bloß, und Herrn Moldens mögliche Insubordination ließ sich auch nicht feststellen, weil beide Herren bei ihrer späteren Begegnung Zivil trugen. Immerhin hatte ich die Genugtuung, daß Vati – natürlich in Uniform – das Abschiedskomitee eindrucksvoll komplettierte, als wir am Spätnachmittag des 3. Mai 1943 zum Sammeltransport abmarschierten. Der Zug war endlos lang, Kinder, Erwachsene, Rot-Kreuz-Schwestern und amtliche Helfer mit weißen Armbinden quirlten durcheinander, stolperten über Koffer und jaulende Hunde, und es schien völlig unmöglich, in dieses Tohuwabohu Ordnung zu bringen. Dazwischen quäkten Lautsprecher, die verlorengegangene Kinder ausriefen und Fliegeralarm ankündigten.
Und dann ging alles ziemlich schnell. Wir fanden uns in einem Abteil wieder, das sogar zu dem richtigen Waggon mit dem Pappschild ›Goldap‹ gehörte, Koffer wurden durch Türen und Fenster hereingereicht, ein Hund folgte, der uns gar nicht gehörte, Türen zu, Pfiffe, und dann setzte sich der stählerne Bandwurm auch schon in Bewegung. Ein letztes Winken, dann waren wir aus dem Bahnhof heraus.
Zehn Minuten später hielten wir wieder an. Alarm!
Ich weiß nicht mehr, womit man damals die Lokomotiven heizte, jedenfalls nicht mit Kohlen. Sobald eine Lok befeuert wurde, verwandelte sie sich in ein feuerspeiendes Ungetüm, das kaum Rauch, dafür aber einen meterlangen Funkenregen ausspie, der meilenweit zu sehen war. Besonders bei Dunkelheit. Deshalb blieben auch die meisten Züge beim ersten Sirenenton sofort stehen und fuhren erst weiter, wenn es Entwarnung gegeben hatte. Auf diese Weise kam natürlich jeder Fahrplan durcheinander.
Aber unser Zug hatte wenigstens schon die Außenbezirke Berlins erreicht, und wir fühlten uns inmitten einer Schrebergartenkolonie verhältnismäßig sicher. Nach einer Dreiviertelstunde ging es wieder weiter. Nordostwärts.
Omi sorgte sofort für Ordnung und versuchte, für die unbekannte Dauer der Reise so etwas wie Bequemlichkeit herzustellen. Erschwert wurden diese Bemühungen durch den Umstand, daß der ganze Zug aus Dritter-Klasse-Wagen bestand und Holzbänke hatte. Mit uns im Abteil saßen außer Christa, von Omi bereitwillig unter ihre Fittiche genommen, noch Uschi sowie Gerda, die ebenfalls mit mütterlichem Begleitschutz reiste. Im Nebenabteil hatten sich Irene und Anita plus ihren Müttern etabliert. Dann kam noch Ursel dazu, die von einer resoluten Rote-Kreuz-Schwester vor sich hergeschoben und mit den Worten »die Kleene fährt allein, kümmern Se sich mal ’n bißchen um ihr!« den etwas konsternierten Müttern überantwortet wurde. Aber wenigstens kannten wir uns alle. Schließlich drückten wir doch schon seit drei Jahren gemeinsam die Schulbank und waren erst vor wenigen Wochen in die vierte Klasse versetzt worden.
»Als erstes müssen die Koffer aus dem Weg«, sagte Omi und wuchtete gemeinsam mit Frau Hartmann unsere verpackten Habseligkeiten in die Gepäcknetze.
»Na ja, so sieht’s schon besser aus«, meinte sie befriedigt. »Und jetzt werden wir die Bänke ein bißchen polstern, sonst sitzen wir uns ja alle Schwielen an den Hintern!«
Sie requirierte Wolljacken und Mäntel, ließ meinen eigenen aber hängen. Der war neu, und außerdem sollte ich meinen künftigen Pflegeeltern in einem ordentlichen Zustand präsentiert werden, auf daß sie aus meinem ersten Auftreten die entsprechenden Rückschlüsse zögen.
Später wurden die Koffer wieder auf die Gänge gestellt und wir Kinder in die Gepäcknetze gelegt, immer zwei, Füße zueinander. Das war auch nicht viel bequemer als auf den Bänken, aber zumindest etwas weicher. Und wir schliefen trotzdem.
Ich weiß heute wirklich nicht
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