Pellkartoffeln und Popcorn
mehr, wie lange die Fahrt gedauert hat; uns kam sie endlos vor. Oft genug standen wir stundenlang auf irgendwelchen Abstellgleisen, weil man die beiden Lokomotiven beschlagnahmt hatte, um wichtige Truppentransporte von West nach Ost zu verschieben. Dann kam endlich eine neue Lok, aber die schaffte es nicht allein; und hatte man schließlich eine zweite heranbeordert, war die erste manchmal schon wieder weg.
Aber wenigstens konnten wir uns während dieser unprogrammierten Aufenthalte die Füße vertreten. Wir hockten auf dem Bahndamm herum, pflückten Margeritensträuße, die nach ein paar Stunden verwelkt waren, schmissen Schottersteine in die Kornfelder und plünderten Gärten, wenn welche in der Nähe waren. Außer Mohrrüben war aber noch nichts reif.
Das Begleitpersonal, anfangs noch auf Ordnung und Disziplin bedacht, kapitulierte bald und beschränkte sich nur noch auf grundsätzliche Anweisungen. »Nich so weit vom Zuch weg, wir wissen nich, wenn’s weiterjeht.«
Verpflegt wurden wir auf allen größeren Bahnhöfen; aber auch dabei gab es mitunter Pannen. Manchmal kam der Zug erst Stunden später an als angekündigt. Gulaschkanone und Teekannen waren längst weggeräumt und mußten schleunigst wieder herangekarrt werden; und noch bevor alle Portionen ausgeteilt waren, fuhren wir weiter. Oder wir wurden entgegen der ursprünglichen Route umgeleitet und standen plötzlich auf einem Bahnhof, dessen Belegschaft auf diese Masseninvasion keineswegs vorbereitet war. »Zu essen haben wir gar nichts und zu trinken bloß Muckefuck oder Pfefferminztee. Den müssen wir aber erst kochen.«
Einmal wurde sogar eine blitzartige Sammelaktion unter den Bewohnern eines kleinen Nestes in der Nähe von Allenstein organisiert. Der Bahnhof bestand aus ein paar Brettern, auf denen ein halbes Dutzend Milchkannen auf den Weitertransport wartete, und in einem Bahnwärterhäuschen, das von einem Kriegsinvaliden bewohnt war. Der Bahnwärter, gebürtiger Breslauer mit zweieinhalbjähriger Fronterfahrung und daraus resultierendem Organisationstalent, gab telefonisch höchste Alarmstufe. Dem Bürgermeister empfahl er, beim Ortsgruppenleiter zu intervenieren und ihm in den fetten Hintern zu treten, auf daß der selbigen einmal vom Stuhl lupfe, dem Ortsgruppenleiter empfahl er umgekehrt das gleiche, und so erschienen bald darauf alle abkömmlichen Dorfbewohner mit Pferdewagen oder Kutschen, auf denen sie alles Eßbare transportierten, was ihnen zur Weitergabe angemessen erschien. Sie reichten uns einen Topf mit Suppe ins Abteil, deren schwärzliche Farbe zu einigem Mißtrauen berechtigte.
»Vielleicht Blaubeer-Kaltschale«, mutmaßte Frau Hartmann.
»Mir sieht das eher wie Holunderbeersuppe aus«, sagte Omi und probierte vorsichtig.
»Nein, also Obst ist da bestimmt nicht drin. Ich tippe eher auf eine Art Ochsenschwanzsuppe, obwohl sie noch einen recht eigenartigen Beigeschmack hat. Kosten Sie doch mal!« Frau Hartmann meinte, der Fremdgeschmack rühre möglicherweise von Pilzen her. »Es muß sich aber um eine bei uns nicht bekannte Sorte handeln.«
Wir Kinder beschlossen vorsichtshalber, keinen Hunger zu haben.
Als Omi den noch halbgefüllten Topf zurückgab, erkundigte sie sich interessiert nach den Ingredienzien der Suppe.
»Das ist Schwarzsauer«, bekam sie zur Antwort. »Es wird aus Blut gekocht.«
Während der restlichen Reise ernährte sich Omi nur noch von belegten Broten und Kaffee-Ersatz.
»Siehst du, Kind, das hast du nun davon! Wärst du zu Tante Lotte gegangen, dann hättest du etwas Anständiges zu essen bekommen. Wenn ich an ihre Bohnen mit Speck denke …«
Nach und nach wurde unser Zug kürzer. Wir waren jetzt schon in der Nähe von Insterburg, wo erneut zwei Waggons abgekoppelt wurden, weil deren Insassen ihr Ziel erreicht hatten. In Gumbinnen blieben weitere Wagen zurück; und schließlich zuckte eine asthmatische Lokomotive mit zwei jämmerlich quietschenden Waggons durch die Ausläufer der Rominter Heide, um endlich gegen zwei Uhr morgens mit einem Seufzer stehenzubleiben. Wir waren da.
5
Der erste Eindruck von unserem künftigen Domizil war nicht gerade überwältigend.
»Das soll ein Bahnhof sein?« fragte Christa erstaunt und besah sich zweifelnd den verwitterten Holzschuppen, der von zwei tristen Laternen beleuchtet wurde.
»Und nicht mal einen Bahnsteig gibt es«, schimpfte Omi, während sie rückwärts aus dem Zug kletterte, »ich habe ja gleich gesagt, daß hier schon Rußland anfängt.«
Aber
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