Pellkartoffeln und Popcorn
ich aber gar nicht, und außerdem lag nach Omis Ansicht Schlesien ja auch schon in Polen.
»Irgendwo stammen die doch alle von den Hunnen ab«, sagte Omi, deren Geschichtskenntnisse sich eher auf die Neuzeit beschränkten, »und die sind doch bis heute noch nicht richtig zivilisiert.«
Also blieb nur die andere Alternative, nämlich Unterbringung in einer Familie, denn für das KLV-Lager war ich mit meinen knapp neun Jahren zu jung. Außerdem wollte Christa ebenfalls mitkommen.
Christa Cord war meine beste Freundin. Wir gingen in dieselbe Klasse und waren vom ersten Schultag an unzertrennlich gewesen. Sie wohnte auch in der Riemeisterstraße, allerdings weiter unten, wo die Wohnungen größer waren. Ihr Vater war Zahnarzt, was mich damals weniger störte, denn meine Zähne waren noch in Ordnung. Sie hatte drei ältere Brüder, die uns immer ärgerten, und lange blonde Zöpfe, um die ich sie glühend beneidete. Ich durfte keine Zöpfe tragen, weil Omi das ›bäurisch‹ fand.
Trotzdem hatte Christa Gnade vor ihren Augen gefunden, und so wanderte Omi gemeinsam mit Frau Cord zu der maßgeblichen Behörde, um Einzelheiten über Herkunft, sozialen Status und Einkommensverhältnisse unserer künftigen Pflegeeltern zu erfragen.
Die waren nicht bekannt. »Det sind allet jute Deutsche, wo in ordentliche Verhältnisse leben. Außerdem jeht die janze Schule in det Dorf, sojar mit die Lehrer, also det hat schon allet seine Richtigkeit.«
»Aber man weiß doch gar nicht, wie und wo die Kinder untergebracht werden«, wagte Omi einzuwenden.
»Denn fahr’n Se doch mit. Oder sind Se kriegsdienstverpflichtet!«
»Nein.«
»Na, sehn Se. Wenn Se woll’n, könn’ Se ooch dableiben. Wenn Se nich woll’n, könn’ Se wieda zurückfahrn. Unser Führer is da sehr jroßzügich. Denn fall’n Se nämlich unter die Katejorie Bejleitpersonal und kriejen ’ne Freifahrt.«
Omi kämpfte tagelang mit sich selber. Sollte sie ihrer unselbständigen und sorgsam behüteten Enkelin in die Verbannung folgen und versuchen, den unausbleiblichen Verfall guter Sitten und eingebleuter Manieren wenigstens zu mildern? Wer weiß, ob man in Ostpreußen überhaupt mit Messer und Gabel aß, und ob man dort auch zweimal wöchentlich die Wäsche wechselte?
Andererseits war noch Mami da, um die sich jemand kümmern mußte. Sie würde ja doch immer vergessen, vor Luftangriffen das Kristall in Sicherheit zu bringen. »Außerdem schließt sie nie die Wohnungstür richtig ab. Meine Blumen würde sie auch vertrocknen lassen. Ich glaube, ich bleibe doch besser in Berlin.«
Allerdings – Ostpreußen kam für mich natürlich nicht in Frage, es mußte ja noch ein anderes Ausweichquartier geben.
Als Omi zu diesem Entschluß gekommen war, wagte ich den ersten Protest. Gewöhnt, mich widerspruchslos allen Anordnungen zu fügen, hatte ich die anhaltenden Debatten mehr oder weniger schweigsam verfolgt, aber jetzt öffneten sich die Tränenschleusen.
»Ich will mit Christa zu-zu-zusammenbleiben, und die anderen aus meiner Klasse gehen auch nach Ha-Ha- Harteck, und ich will nicht ganz alleine wo-wo-woanders hin«, schluchzte ich.
Omi sah mich ganz entgeistert an. »Aber wenn ich dich dort oben doch gar nicht besuchen kann?«
»Ist mir egal, die anderen kriegen ja auch keinen Besuch.« Diplomatie war nie meine starke Seite.
Nun war es also beschlossen: Das Kind kam nach Ostpreußen.
Nach ein paar Tagen hatte Omi die ihr angetane Kränkung so weit überwunden, daß sie sich zu einem Kompromiß entschloß. Sie würde mich auf der Fahrt begleiten, ein paar Tage in meinem künftigen Domizil bleiben, um die ihr notwendig erscheinenden Anordnungen zu treffen, und dann wieder zurückfahren.
Tante Else wurde herbeizitiert, um meine Garderobe in Ordnung zu bringen; und als Omi die Koffer packte, vergaß sie auch nicht sechs Leinenservietten – »wer weiß, ob die da in Rußland so etwas überhaupt kennen?« – und mein Silberbesteck, das ich zur Taufe bekommen hatte.
Allmählich packte mich sogar Reisefieber. Außerdem wollte ich jetzt auch endlich weg, denn meine sämtlichen Spielkameraden waren inzwischen evakuiert, und ich kam mir so zurückgelassen vor. Mümmchen lebte schon seit Weihnachten bei ihrer Großmutter in Sachsen. Jutta und ihre kleine Schwester Sabine waren ebenfalls bei Oma und Opa. Lothchen wohnte jetzt bei einer Tante am Wandlitzsee. Helga Ingersen war mit ihrer Mutter ganz aus Berlin weggezogen, und Klaus mit dem ich zuletzt gespielt hatte,
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