Pellkartoffeln und Popcorn
später, daß sie ungefähr zwei Pfund wilde Himbeeren gegessen und anschließend einen halben Liter Wasser getrunken habe. Zur Strafe mußte sie Kamillentee trinken, über dessen Grundsubstanz wir ja in ausreichender Menge verfügten.
Bekanntlich schlägt dem Glücklichen keine Stunde, und unversehens war der September halb herum. Wir mußten unsere Koffer packen und an die Heimfahrt denken. Während Frauke wahllos Trainingsanzug, schmutzige Strümpfe, ihre eingemachten Käfer und eine Tüte mit Brombeeren in die Reisetasche stopfte, maulte sie: »Jetzt geht dieser elende Alltagstrott wieder los. Hier waren die Lehrer wenigstens Menschen, jetzt werden sie wieder zu Paukern. Das muß am Klimawechsel liegen. Setz dich mal auf den Koffer, ich krieg das Ding nicht zu.«
Die Rückfahrt sollte in zwei Gruppen stattfinden, und zwar sollte die erste Gruppe den Frühzug benutzen; die zweite, zu der auch ich gehörte, nach dem Mittagessen fahren. Das Bimmelbähnchen befuhr die Strecke bis Pardubice (damals hieß das treu deutsch Pardubitz) nur mit zwei kleinen Waggons, und die hätten wir bei vollzähligem Erscheinen mühelos besetzen können. Das ›Huhn‹ war aber der Meinung, daß auch andere Fahrgäste das Recht auf einen Sitzplatz hätten, und so wurden für uns jeweils nur fünf Abteile reserviert.
Diesmal erschien Pavel mit einem großen Leiterwagen, das Pony hatte er durch zwei Ackergäule ersetzt und als Hilfskraft seinen Bruder angeheuert, den er Watsche nannte. Ich vermutete allerdings, daß der strohblonde Knabe einen ganz normalen tschechischen Namen hatte, aber in meinen Ohren klang er eben wie Watsche. Watsche lud gehorsam die Koffer auf, Watsche mußte Wasser holen und die Pferde tränken, Watsche schleppte die letzten beiden Säcke mit Kamille an, und schließlich bekam Watsche von Fräulein Putz eine Tafel Schokolade. Watsche griente höchst erfreut.
Die erste Reisegruppe war unter Fredemaries Führung abmarschiert. Wir anderen hockten im Gras herum und wußten nicht, was tun. Abschiedsstimmung, gepaart mit Weltschmerz, dazu der ungewohnte Anblick von Uniformen, nachdem wir wochenlang in abenteuerlicher Freizeitkleidung herumgehüpft waren. Zähneknirschend hatten wir uns ab und zu der Anordnung fügen müssen, nach der auf Wanderungen, Ausflügen und Reisen BDM-Kleidung zu tragen war. Ein paar Wochen lang hatten wir den Krieg regelrecht vergessen. Jetzt wurden wir wieder an ihn erinnert!
»Gibt es hier eigentlich auch Fliegeralarm?« wollte ich von Frauke wissen.
»Manchmal schon, aber Bomben fallen ganz selten. Höchstens auf Bahnhöfe. Aber es gibt Tieffliegerangriffe, und dann werden Züge beharkt, weil das ja Truppentransporte oder Munitionswagen sein könnten. In Podiebrad ist jedenfalls noch keine Bombe runtergekommen.«
Nach dem Mittagessen ließ Pützchen uns antreten. »Wir gehen jetzt los. Bis zum Dorf könnt ihr meinethalben wie Fußkranke durch die Gegend schlurfen, aber dann bitte ich mir Haltung aus. Ohne Tritt marsch!«
Ludovica, unsere gemütliche tschechische Köchin, wischte sich mit einem karierten Handtuch über die Augen und beteuerte ein ums andere Mal: »Haben wir gehabt scheene Sommer zusammen, werden wir wieder haben scheene Sommer nächstes Jahr!«
Als wir den Bahnhof mit dem unaussprechlichen Namen erreichten, hörten wir schon die Lokomotive bimmeln. Dann bog der Zug um die Ecke: offenbar doppelt so lang wie üblich und krachend voll. Das ›Huhn‹ steuerte die reservierten Abteile an. Die waren besetzt, und zwar von Soldaten. Ein Offizier mit viel Lametta auf der Brust und etwas Blechernem am Hals erklärte Fräulein Dr. Stade, daß er bedauerlicherweise die reservierten Abteile habe beschlagnahmen müssen; aber Truppentransporte seien nun mal wichtiger als private Reisen.
Das ›Huhn‹ ohnehin nicht mit allzuviel Durchsetzungsvermögen ausgestattet, krähte erbarmungswürdig: »Was sollen wir denn jetzt tun?«
»Es werden ja wohl noch mehr Züge fahren. Dann nehmen Sie eben den nächsten.« Wir warteten gehorsam, wenn auch nicht eben geduldig.
Der nächste kam zwei Stunden später. Er war leer. »Jetzt kommen wir aber zu spät zum Abendessen«, schimpfte die schwergewichtige Hannelore, »hoffentlich heben die uns was auf. Eigentlich sollten wir doch um fünf in Podiebrad sein.«
»Wie kann man bloß so verfressen sein!« tadelte Pützchen die kleine Dicke. »Viel wichtiger ist im Augenblick die Frage, wann wir in Pardubitz Anschluß haben.«
Wir dösten vor uns
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