Pellkartoffeln und Popcorn
höheren Militärs eine Probebeflaggung vornehmen. Nach seiner Vorstellung sollten Seile quer über die Straße gespannt und genau in der Mitte davon die Fahnen befestigt werden. Weiter unten, wo die Riemeisterstraße auf beiden Seiten bebaut war, ließ sich das ohne weiteres bewerkstelligen, aber unsere letzten vier Häuser hatten kein Gegenüber. Maugi kletterte also auf den Laternenmast und wickelte das Wäscheseil um die oberste Spitze. Das andere Ende der Schnur hing an Omis Fensterrahmen, und der Höhenunterschied betrug zirka zweieinhalb Meter. Die uniformierte Aufsicht war damit nicht einverstanden. Onkel Paul versuchte, einen Haken in die Hausmauer zu schlagen, traf den Daumen, gab Hammer und Nagel an Maugi weiter, der erst einen halben Quadratmeter Putz von der Wand schlug, bevor er eine Fuge traf und den Haken verankern konnte. Jetzt stimmte zwar die Höhe mit der Laterne überein, aber dafür würden die Fahnen den paradierenden Soldaten ins Gesicht klatschen. So ging es also auch nicht.
»Wir müssen den Mast künstlich verlängern«, entschied Onkel Paul, lehnte aber jede weitere Mithilfe nach einem Blick auf seinen lädierten Daumen ab. Maugi mußte wieder auf die Laterne, bekam eine ausrangierte Gardinenstange zugereicht und band sie mit zehn Meter Wäscheleine an dem eisernen Mast fest. Jetzt hing die Fahnenschnur nicht nur gerade, sondern auch in der richtigen Höhe. Omi ließ vorsichtig vom Fenster aus die mit Schlaufen versehenen Flaggen herunter, und als sie endlich halbwegs in der Mitte hingen, krachte die Gardinenstange durch.
Unser russischer Wachhund war schon bereit, auf ein einheitliches Straßenbild zu verzichten und den letzten Häusern eine Fensterbeflaggung zuzubilligen, als Opi den rettenden Einfall hatte: »Warum binden wir das Seil nicht an den ersten Baum?«
Der erste Baum stand ungefähr vierzig Meter tief im Wald. Egal, Strippen her! Wir knoteten Wäscheleinen an Draht und den Draht an Bademantelkordeln, dann kam wieder ein Stück Leine, aber schließlich reichte es und die Fahnen hingen endlich vorschriftsmäßig.
Dann durften wir sie wieder einziehen.
Vierzehn Tage lang hieß es abwechselnd Fahnen raus und Fahnen rein, mal morgens, mal mittags – inzwischen hatten sie den ersten Gewitterregen abgekriegt und sahen gar nicht mehr so schön aus – aber immer warteten wir vergebens auf die angekündigte Parade. Die russischen Soldaten marschierten zwar weiterhin die Straße hinauf und hinunter, aber diesen Anblick kannten wir zur Genüge. Jetzt wollten wir endlich mal die anderen Sieger sehen!
Natürlich brauchten wir die Fahnen dann doch nicht, weil die spätere Siegesfeier ganz woanders stattfand. Aber das Gerücht, wir würden in Kürze von den Amerikanern ›besetzt‹ werden, hielt sich hartnäckig, wenn auch die Variationen über Zeitpunkt und Auswirkungen dieses geplanten Machtwechsels ziemlich auseinandergingen.
»Wenn Zehlendorf künftig zum amerikanischen Sektor gehören sollte, wird mir auch allmählich klar, weshalb die Amis uns bei ihren Bombenangriffen verschont haben. Kein vernünftiger Mensch zerschlägt das Porzellan, das er später benutzen will. Die Amerikaner werden uns aus den Häusern werfen und selbst einziehen. Aus welchem Grund hätten sie sie denn sonst stehenlassen?«
Mamis Prognose traf dann auch haargenau zu.
Im Augenblick dachten die Russen aber noch gar nicht an Abzug. Sie biwakierten nach wie vor im Wald und verwandelten ihn allmählich in ein Zigeunerlager. Zwischen den Bäumen flatterte Wäsche, die aber auch nicht sauberer aussah als vorher, dazwischen standen drei Panzer und rosteten langsam vor sich hin, etwas abseits grasten ungefähr zwanzig Panje-Pferdchen, auf denen wir Kinder sogar reiten durften. Abends flackerten zwischen den Zelten vereinzelte Feuer auf, und drumherum lagerten die Soldaten und sangen schwermütige Lieder in Moll. Es klang fremdartig und schön, und in solchen Augenblicken vergaßen wir manchmal, daß dort drüben ja eigentlich unsere Feinde saßen.
Während der letzten Wochen waren wir kaum viel weiter als bis zur Ladenstraße gekommen und hatten überhaupt keine Ahnung, was sich in der Stadtmitte eigentlich abspielte. Die U-Bahn fuhr noch nicht wieder, obwohl man eifrig bemüht war, das einzige halbwegs intakte Verkehrsmittel wieder funktionstüchtig zu machen; und langsam kamen wir uns vor wie auf einer Insel, die von der Außenwelt abgeschnitten ist. Nur einmal waren wir quer durch den Grunewald am Wilden
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