Pelte, Reinhard
hochfliegenden Pläne und Vorstellungen von der besseren Welt da draußen, jenseits von Elternhaus und Schule, die ihn an einen Ort tragen sollten, wo es besser zuging als hier, wo er ohne sein Zutun und ohne, dass er wenigstens ein einziges Mal dazu befragt worden wäre, hingestellt worden war. Und auf einmal überfiel es ihn mit seltener Klarheit: Alle seine Wünsche und Hoffnungen waren Wirklichkeit geworden, nur seine Vorstellungen davon, wie das Bessere auszusehen und wie es sich anzufühlen hatte, waren schmerzhaft und zur Gänze zertrümmert worden.
Mit einem Gefühlsmix aus Beklemmung, Neugierde und Unsicherheit betrat er die Lobby. Sie drehten sich alle zu ihm um, und die Gespräche brachen ab. Als er die Lobby durchschritt, kam er sich vor wie auf einem Catwalk, auf dem die neuesten Karrieremodelle vorgeführt wurden. Er fürchtete zu versagen, und als er die ersten Hände geschüttelt hatte und ihm sein Spitzname, der ihm nach einer Comicserie, die Petzi, Pelle und Pingo hieß und von den lustigen Abenteuern eines Bärenjungen, eines Pelikans und eines Pinguins erzählten, als ihm also sein Spitzname zugerufen wurde, entspannte er sich und wusste auf einmal, dass er immer zu ihnen gehören würde und auch wiederum nicht.
»Pingo, wo kommst du denn her?«
»Aus Flensburg, was meinst denn du?«
»Zu dir hätte eher gepasst, du hättest aus China angerufen und schöne Grüße ausrichten lassen.«
Sie lachten laut. Da hatte er es, bereits jetzt, gleich zu Beginn: Sie mussten damals schon gespürt haben, was er nie laut zu sagen gewagt, was ihn jedoch immer bewegt hatte: nur weg, weg, weg.
»Jetzt ist er da, wo er uns allen den Garaus machen kann«, dröhnte Immo aus seiner Höhe auf sie herab. Jung fand seine Wortwahl merkwürdig deplatziert.
»Wieso? Ist er bei der Steuerfahndung?« Joachim lachte laut und alle stimmten ein.
»Nein, aber bei der Kripo. Er hat es mir am Telefon gebeichtet.«
Das Wort gebeichtet fand Jung in diesem Zusammenhang peinlich überdreht.
»Immo, wo kriegen wir denn etwas zu trinken her? Ich brauch einen guten Schluck, wenn ich euch alle länger ertragen soll.« Kumpelhaftes Gelächter und Schulterklopfen folgten auf Jungs Bemerkung und lenkten das Gespräch auf eine Ebene, auf der sie alle gerne zwanglos weitermachen konnten.
»Also, was ist?«, insistierte Jung.
»Jungi, immer der Alte, immer auf den Punkt. Klar, wir gehen jetzt in den Karzer, da, wo wir sowieso hingehören.«
Unter Gelächter und Kopfschütteln stiegen sie die Treppe in die Weinstube hinunter. Die Gesellschaft seiner alten Kameraden erleichterte es Jung, nicht die Gefühle aufkommen zu lassen, die ihn sonst hier beschlichen hatten. Außerdem wusste er, dass Immo eine gute Weinkarte pflegte. Wahrscheinlich hatte er einen guten Maître, denn in dieser Hinsicht traute Jung ihm nicht viel zu. Der Gedanke an einen Schoppen Kiedricher Wasseros von Speicher-Schuth erleichterte Jung den Aufenthalt im Karzer.
»Du bist also bei der Kripo gelandet?« Joachim setzte sich neben Jung an einen Tisch.
»Ja, ich habe mich gleich nach dem Studium dazu entschlossen.«
»Wolltest du nicht Arzt werden?«
»Das stand in der Zeitung, ja«, gab Jung zu. »Aber wusstest du schon vor dem Abitur, was du hinterher machen willst?«
»Ja, bei mir war das ganz klar.«
»Ach richtig, du warst ja der begnadete Chemiker und hattest nichts anderes im Sinn, als es ordentlich knallen zu lassen, ich erinnere mich. Und jetzt bist du bei der BASF im Vorstand, oder was?«
»Nee, weit gefehlt. Ich hab mit Chemie nur noch ganz entfernt zu tun, ungefähr genauso viel wie mit Babykost oder Glühbirnen.«
»Was ist passiert?« Jungs Interesse war aufrichtig. »Erzähl mal.«
»Das ist eine witzige Story, obwohl ich sie damals gar nicht witzig fand. Ich hab also in Berlin Chemie studiert. Die Zeiten waren aufgeregt und bewegt, und eines Tages fand ich mich als Zaungast auf einer Studentendemo wieder. Ich wusste gar nicht, wogegen oder wofür da marschiert wurde. Aber es war ein unheimlicher Massenauftrieb, und die Polizei schritt mit Hundertschaften ein, um die Demonstranten auseinanderzutreiben. Dabei wurde ich abgedrängt und fiel in den Landwehrkanal. Die Polizei fischte mich raus und nahm mich als Rädelsführer in vorläufigen Gewahrsam. Ich wurde amtlich registriert und dann wieder auf freien Fuß gesetzt.«
»Du und politischer Rädelsführer, das ist doch ein Witz«, unterbrach ihn Jung.
»Kein Witz, sondern amtliche Realität.
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