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Pelte, Reinhard

Pelte, Reinhard

Titel: Pelte, Reinhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inselbeichte
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Haarbüschel über Kragen und zwischen Knöpfen hervortreten. Seine Krawattenknoten erinnerten Jung an schlampig geknüpfte Seemannsknoten, an denen er dauernd herumfingerte, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, seine Brille abzunehmen, um aus einem Buch vorzulesen. Jung hatte sich oft gefragt, warum er die Krawatten nicht einfach wegließ. Er schwärmte seinen Schülern wiederholt vor, wie gerne und viel er kochte, aß und trank. Er log nicht, sie konnten es sehen und riechen. Seine Augen verschwanden hinter Speckfältchen und nahmen Form und Ausdruck von Schlitzaugen an. Er ähnelte dann den Soldaten der mongolischen Infanteriebataillone, von denen er völlig unvermittelt anfing laut und erregt zu erzählten, wenn einer seiner dämlichen Schüler wieder mal nicht den richtigen Gebrauch vom Ablativus absolutus machte. Mit langstieligen Sicheln seien sie in die deutschen Gräben eingedrungen und hätten dort unvorstellbar grausame, blutige Ernte gehalten. Er riss bei seinen Erzählungen die Augen auf, und sie bekamen einen gefährlich-irren Glanz. Er brach seine Erzählungen genauso unvermittelt ab, wie er sie begonnen hatte, und zitierte anschließend minutenlang aus Caesars ›De bello Gallico‹ oder Sallusts ›Catilinae coniuratio‹. Auswendig, versteht sich. Wenn er auf seinem dünnen Triumph-Motorrad nach der Schule nach Hause fuhr, musste man befürchten, dass das klapprige Gerät in der nächsten Minute unter ihm zusammenbrechen würde, doch was sie alle herbeiwünschten, geschah nie. Er hatte vier aufgeweckte Kinder, darunter zwei bildhübsche Töchter, und eine Frau, die genauso dick war wie er selbst.
    Jung erinnerte sich zudem an das beklemmende Unverständnis, das ein Religionslehrer in ihnen ausgelöst hatte. Er war nur für wenige Monate an ihrer Schule geblieben. Nach seinem abrupten Abgang hatte der Direktor die Klasse versammelt und eine kurze Ansprache gehalten, wozu er sich genötigt sah. Diese ungewöhnliche Einmaligkeit hatte dem Ereignis eine Bedeutung gegeben, die die Schüler sonst nicht empfunden hätten. Denn an die Merkwürdigkeiten ihrer Lehrer hatten sie sich mit dem stoischen Gleichmut von unbeschriebenen Blättern gewöhnt.
    Der Religionslehrer war ein kleiner, dickbäuchiger Mann mit fliehender Stirn und Halbglatze gewesen. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Aber die enorm langen, in spitze Nägel auslaufenden Finger seiner feingliedrigen, femininen Hände, die in einem auffälligen Gegensatz zum übrigen Körper standen, und die er unentwegt, wellenartig auf und ab bewegte, gaben ihm eine diabolische Aura von seltener Intensität. Dazu kam ein kleiner, fast weibischer Kussmund, dessen dunkle, glatte Lippen er beim Reden zuspitzte. Er sprach nur ex cathedra, mit spitzem Mund und trommelnden Fingern. Er hielt keinen Unterricht, er dozierte mit scharfer Stimme und in sorgfältig zusammengefügten Sätzen. Er hielt sich geradezu fest an seinem Vortrag und merkte nicht, wie einmal ein gelangweilter Immo während seines Unterrichts durch das Fenster verschwand. Mitten drin, es hatte irgendwo geknallt oder eine Tür war unabsichtlich ins Schloss gefallen, zuckte er krampfartig zusammen und fing an, unverständliches Zeug zu brabbeln: »Da sind sie. Sie kommen. Die verfluchten Schweine.« Seine Augen starrten angespannt ins Leere und fixierten schließlich die Klassenzimmertür, als erwarte er dort gleich den Leibhaftigen. Und dann stürzte er mit einer Behendigkeit, die ihm keiner zugetraut hatte, zum Fenster und sprang ebenfalls hinaus auf die Straße. Ähnliche Vorfälle mit ihm hatte es auf anderen Stockwerken gegeben, nur war er dort auf weniger gefährlichen Wegen entflohen.
    Wie sich hinterher herausstellte, war er Mitglied der Waffen-SS gewesen. Er musste Gründe gehabt haben, die ihn bewogen, sich nach Kriegsende vorübergehend nach Ägypten abzusetzen und dort die Entnazifizierungskampagne der Sieger abzuwarten. Er litt seitdem unter Verfolgungswahn. Sein Verhalten war schließlich selbst dem Schuldirektor zu viel, dessen Toleranz gegenüber seinen eigenen Merkwürdigkeiten (er teilte gerne Ohrfeigen aus oder warf mit Schlüsselbunde um sich) und den seiner alten Kollegen genauso groß war wie das Verständnis für seine jungen Schüler gering. Der Religionslehrer wurde aus dem Schuldienst entlassen. Es hieß später, er soll bei vollen Bezügen in ein Landeskrankenhaus eingewiesen worden sein. Zu seiner aktiven Zeit fuhr er als einer der Erster einen Lloyd Plastikbomber

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