Pelte, Reinhard
alte. Was machst du denn eigentlich beruflich? Wenn man dich so reden hört, könnte man glauben, du hast ein Beerdigungsunternehmen.« Er lachte laut, und Jung wurde es langsam unbehaglich.
»Du liegst damit gar nicht mal so falsch. Ich bin bei der Polizei.«
»Aber doch wohl nicht bei den Leichenbeschauern, oder?« Immo stieß erneut eine Kaskade lauter Lacher ins Telefon.
»Nein, aber bei der Kripo. Ich bin Leiter des Dezernats für unaufgeklärte Kapitalverbrechen bei der Polizei-Inspektion Nord in Flensburg.«
»Was?«
Es entstand eine Pause. Jung registrierte erstaunt, dass Immo es bei einem einzigen Wort beließ und nicht wieder in homerisches Gelächter ausbrach. Nach einer kurzen Pause fragte Jung: »Was ist los? Ist das was Schlimmes?«
»Nein, nein, alter Junge«, beeilte sich Immo mit seiner Antwort. »Hätt ich dir gar nicht zugetraut. Bin sprachlos.«
Immos dröhnende Jovialität hatte ein jähes Ende genommen. Jung registrierte, dass auch bei Immo schließlich wirkte, was er schon so oft vorher bei anderen wahrgenommen hatte, wenn er seinen Beruf erwähnte. Es schien ein kollektives Schuldbewusstsein zu geben, das sich immer dann offenbarte, wenn ein amtlich legitimierter Rächer sich outete. Das kannte er zur Genüge. Jung leitete das Ende des Telefonats ein.
»Wir sehen uns am Wochenende. Dann quasseln wir weiter. Gibt es ein Programm, Immo?«
»Nein, Jung. Wir essen abends zusammen. Du kommst am Nachmittag einfach hierher. Ich bin da, und alles Weitere ergibt sich dann mit den anderen. Ich wünsch dir was. Bis dann. Tschüss.«
»Tschüss bis Samstag, Immo.«
Jung legte den Hörer auf und lehnte sich zurück. Er war froh, das Gespräch zu Ende gebracht zu haben. Gemischte Gefühle beschlichen ihn. Sein anfänglicher Enthusiasmus war einer Skepsis gewichen, die die Frage aufwarf, ob er nicht lieber zu Hause bleiben sollte. Daran war natürlich nicht ernsthaft zu denken. Darüber hinaus schien es ihm ebenso unangebracht, wenn er an sein berufliches Anliegen dachte.
Jung konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit. Was konnte er jetzt noch tun? Um voranzukommen, musste er sich der Familie des verschwundenen Mädchens weiter nähern. Er war sich sicher, dass das der einzig gangbare Weg war, um überhaupt noch erfolgreich sein zu können. Aber er sah ein, dass das äußerst schwierig werden würde, weil die Familienmitglieder nicht greifbar waren. Der Klavierlehrer war ein sensibler und engagierter, also guter Zeuge gewesen und hatte Jung nähere Einblicke in die Familie Carl gewährt. Von ihm hatte er erfahren, dass das Mädchen asthmakrank gewesen war. Die Krankheit warf einen leichten Schatten auf den Glanz der heilen Familie. Sie war auch in der Akte nicht weiter erwähnt worden. Das war jedoch nicht das Einzige gewesen, das dort keinen erkennbaren Niederschlag gefunden hatte.
Er musste Fakten zur Familie sammeln und den Klavierlehrer anschließend direkt und konkret darauf ansprechen. Vielleicht ließen sich noch in ihm schlummernde Informationspotenziale abrufen. Der Bruder des Mädchens hatte bei seinem alten Klassenkameraden eine Ausbildung zum Hotelkaufmann absolviert. Immo musste ihn also kennen. Der Gedanke daran, bei ihm auf Details stoßen zu können, die feine Antennen und Sensitivität erforderten, ließ ihn nach dem Gespräch mit ihm allerdings mit dem Kopf schütteln. Dennoch musste er es versuchen. Das Klassentreffen würde vielleicht Möglichkeiten eröffnen. Jung hatte schon öfter die Erfahrung gemacht, dass dieser Weg zu Ergebnissen führte, die nicht auf anderen und schon gar nicht auf den offiziellen Wegen zu erreichen waren. Allerdings erforderte das von ihm konzentrierte Wachheit. Er verpflichtete sich vor sich selbst, bei den anfallenden Trinkgelagen Vorsicht und Zurückhaltung walten zu lassen.
Über seinen Gedanken brütend tauchte plötzlich die Frage auf, warum eigentlich die Einladung nur an die Klassenkameraden und nicht auch an deren Ehefrauen, Lebenspartnerinnen oder Freundinnen ergangen war. Üblicherweise verbrachte man den Jahreswechsel doch mit seinen nächsten Angehörigen und Freunden auf Dinner-Partys, Gesellschaften, Bällen oder zu Hause. Er nahm sich vor, Immo darauf anzusprechen.
Ihn selbst betraf das nicht gravierend. Er machte sich aus Silvester nichts und verbrachte den Abend am liebsten im Kreise seiner Familie, mit seinen Kindern und ihren Freunden bei Karten- oder Brettspielen und mit Fondue, Kartoffelchips, Coke, Knallkörpern,
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