Pelte, Reinhard
Restaurantleiter. Ich vertraue ihm da völlig. Aber mal was ganz anderes. Es schneit draußen. Ich schlage vor, dass ihr euer Gepäck aus den Autos holt und erst einmal die Zimmer bezieht. Nach dem Essen ist es vielleicht zu spät.«
Sie erhoben sich und folgten Immos Empfehlung. Als Jung durch den Windfang ins Freie trat, empfing ihn heftiges Schneetreiben. Ein starker Ostwind hatte eingesetzt und trieb den Schnee zu ersten Wehen an alle Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellten. Als er die Kofferraumhaube öffnete, riss der Wind sie ihm aus der Hand. Er stand bis über die Knöchel im Schnee, griff sich rasch seine Reisetasche und hatte Mühe, die Haube wieder zu schließen. Dann stapfte er, gegen den Wind gelehnt, zurück in die Lobby und schüttelte sich den Schnee von den Schuhen. Bald darauf stürmten auch die anderen mit ihrem Gepäck in die Halle.
»Um 20 Uhr beginnt das Essen. Wer will, trifft sich vorher im Karzer. Wer’s nötig hat, ruht vorher noch aus.«
Immo war jetzt ganz in seinem Element. Unter Fluchen und Lachen erklommen sie die Etagen und bezogen ihre Zimmer. Sie waren alle im Haupthaus, in der alten Schule, einquartiert. Immo hatte ihnen sinnigerweise die ehemaligen Klassenzimmer zugewiesen, in denen sie über lange Jahre die Bänke gedrückt hatten. Zum Glück für Jung waren die Räume nicht mehr wiederzuerkennen. Sie waren zu großzügigen Schlafräumen geworden, mit Bädern und Garderoben mit Einbauschränken. Die Ausstattung war teuer, wenn auch ein wenig plüschig und überladen, mit Holzpaneelen, schweren Möbeln, malvenfarbenen Samtvorhängen und dicken Teppichböden. Als Jung die Stores vor die Fenster zog, sah er draußen dicke Schneeflocken vorbeifliegen. Ihn überkam in dem alten, dicken Gemäuer eine ungewohnte Wohligkeit, die ihn alles vergessen ließ, sogar, dass er noch vor wenigen Tagen daran gedacht hatte, lieber zu Hause zu bleiben. Er dachte an das Mädchen, das so oft auf dem Fahrrad nach Husum gefahren war, und an ihren Bruder, der hier gelernt hatte. Sein eingeschneites Auto fiel ihm ein. Er wurde unruhig. Seine Gedanken schweiften ab. Er packte seine wenigen Sachen aus und legte sich aufs Bett.
*
Auf dem Weg in die Zimmer hatten seine Schulkameraden herumgealbert wie kleine Kinder. Sie johlten, als sie sich daran erinnerten, wie sie im Winter Eisbrocken von den gefrorenen Pfützen auf dem Schulhof in die Flure geschleppt und sie, wie ein mit Wucht geschlagenen Puck, gegen die Scheuerleisten hatten knallen lassen. Der Lärm scheuchte die Lehrer aus dem Pausenzimmer und ließ sie ratlos hin und her laufen. Eine Untersuchung wurde eingeleitet.
Jung fragte sich, was ihn daran hinderte, an der Ausgelassenheit seiner Kameraden teilzuhaben. Ihm war überhaupt nicht nach Scherzen zumute. War denn alles, was er erlebt hatte, nicht wahr gewesen, oder hatten seine Mitschüler nur besser verdrängt, was ihm nicht gelungen war? Wie hatten sie wohl ihren Lateinlehrer in Erinnerung behalten?
*
Ihre Lehrer hatten in der Mehrzahl als Soldaten am Zweiten Weltkrieg teilgenommen, nur wenige hatten ihn passiv ertragen müssen und erst nach dem Krieg ihr Lehrerstudium aufgenommen und abgeschlossen. Ihr Lateinlehrer war vor dem grässlichen Krieg sicherlich ein Feingeist gewesen, der sich mit seinen Kollegen in fließendem Latein oder Altgriechisch über die Stilmittel eines Homer oder das Versmaß in Ovids Oden unterhalten hatte. Das tat er hin und wieder, auch, nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt war, in Monologen vor seinen Schülern, die natürlich nichts davon verstanden. In Deutsch redete er vornehmlich über den Krieg. Da verstanden ihn seine Schüler gut. Vor Stalingrad war er gründlich auseinandergenommen worden. Seine Trümmer überlebten in den Bergwerken von Workuta im Ural, in russischer Gefangenschaft. Der deutsche Kanzler Adenauer holte sie 1955 zurück und setzte sie wieder zusammen zu einem dicken, ungepflegten und unrasierten Monstrum. Oft kam er zu spät in die Schule gewatschelt und wurde von seinem Direktor vor dem Schulgebäude abgefangen und öffentlich abgemahnt. Er liebte es, eine speckige, ärmellose Lammfelljacke über Hemd und Hose zu tragen. Wenn er vergessen hatte, sich Socken anzuziehen, was des Öfteren vorkam, lugten Schlafanzughosen unter seinen Anzughosen hervor. Seine angeschmuddelten, knittrigen Hemden waren zu eng und um den speckigen, halslosen Übergang von Kopf zu Rumpf nicht mehr zu schließen gewesen. Sie ließen
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