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Pelte, Reinhard

Pelte, Reinhard

Titel: Pelte, Reinhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inselbeichte
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Als sie über die buckligen Feldsteine des Vorplatzes zum Eingangstor rutschten, mussten sie sich aneinander festhalten, um nicht zu stürzen. Sie schloss das zweiflügelige Tor mit einem großen Bartschlüssel auf. Die alte Schmiede war ein einziger Raum und nahm das ganze Haus ein. Die Wände waren, soweit sie von den Werkbänken und Werkzeugen nicht zugestellt waren, verdreckt und schmutzig von Öl und Ruß. Im Hintergrund standen ein gewaltiger Amboss und eine mächtige Esse. Daneben waren einige Reihen Fettkohle aufgestapelt. Den Raum füllte ein Chaos aus Sportgeräten aller Art, Schrott, Metallteile, Berge von Eimern, Fahrradrahmen, Hacken, Forken und alle möglichen landwirtschaftlichen Geräte.
    »Das ist die Welt von Udo und seinen Jungs«, sagte Greta Driefholt und machte eine einladende Rundumbewegung. Sie traten ein.
    »Sieht aus wie bei ›Wieland der Schmied‹ von Richard Wagner«, bemerkte Jung.
    »War das auch so ein Verrückter?«
    »Fiel mir nur gerade so ein. Ich glaube, Wagner hat den Text nie vertont«, sagte Jung traumverloren und sah sich interessiert um.
    »Sie fummeln hier alles zusammen, was ihnen in den Sinn kommt und was das herumliegende Zeug hergibt«, erklärte sie.
    Sie gingen langsam in den hinteren Teil der Werkstatt.
    »Sie reparieren viel: Skateboards, Rollerskates, Schlittschuhe, natürlich Mopeds und vor allem Fahrräder; Fahrräder von anno dazumal bis zu den Hightech-Dingern von heute. Hier hinten gammeln noch die Fahrradwimpel von Jahrzehnten. Heute gelten sie bei den Kids als uncool.« Sie zeigte in eine Ecke an der Rückwand.
    Ein mit Spinnweben überzogener Haufen Glasfiberstangen lehnte in der schmuddeligen Ecke. Die Wimpel erinnerten Jung an die Erzählung des Klavierlehrers, wie er sehnlichst darauf gewartet hatte, den Fahrradwimpel seiner Schülerin Imke Carl an der Ecke auftauchen zu sehen. Jung näherte sich. Zwischen den unzähligen roten Wimpeln lugte das winzige Stück eines andersfarbigen hervor. Jung trat noch näher. Er griff nach dem Fetzen und zerrte ihn hervor. Er zuckte zusammen. Er war schwarz und weiß und der Tastatur eines Klaviers nachempfunden. Jung erstarrte. Er konnte nicht glauben, was sich ihm aufdrängte.
    »Was haben Sie? Was ist an den Dingern so interessant?«, fragte Greta Driefholt ungläubig lachend.
    »Nichts, nichts«, erwiderte Jung fahrig. »Es ist wirklich nichts.« Er hatte Mühe zu antworten. »Mich überkam gerade die Erinnerung an meine Tochter. Sie hatte einen Fahrradunfall, der sie fast das Leben kostete. Zum Glück kam sie mit dem Schrecken davon.«
    »Mein Gott. War es so schlimm?«
    »Ja. Sehr schlimm.« Jung schwieg.
    »Man hört öfter von Fahrradunfällen. Vor Jahren las ich in der Zeitung über den Unfall eines kleinen Mädchens auf dem Festland. Ich erinnere mich nur sehr dunkel. Ich mag solche Sachen nicht.« Sie schwieg ebenfalls. Als Jung keine Regung zeigte, sagte sie aufmunternd:
    »Gehen wir. Ich führe Sie jetzt zur Kirche. Zu Fuß ist es ganz schön weit. Wollen wir laufen oder mit dem Auto fahren?«
    »Wir fahren«, sagte Jung abwesend.
    Sie verließen die alte Schmiede und gingen den Weg zurück zur Pastorei. Was hatte der Wimpel zu bedeuten? Hatte er Imke Carl gehört? Wenn ja, was mehr als nur wahrscheinlich war, wie kam er hierher? Hatte Udo etwas damit zu tun? Hatte er tatsächlich Schuld auf sich geladen? Was könnte da passiert sein? Hatte Immo davon gewusst? In Jungs Kopf flitzten die Gedanken hin und her wie ein Haufen Billardkugeln, zwischen die der weiße Spielball gerollt war.
    »Wir sind da«, weckte sie ihn auf. »Können wir fahren?«
    Jung riss sich zusammen.
    »Ja, schon gut. Entschuldigung.«
    Er schloss das Auto auf, und sie fuhren die kurze Strecke bis St. Laurentii. Jung hatte Mühe, sich auf die Straße zu konzentrieren. Zum Glück gab es keinen Verkehr. Greta Driefholt fühlte, dass Jung mit irgendetwas kämpfte, wagte er aber nicht, ihn danach zu fragen.
    Als sie den Friedhof durch das weiße Gatter betraten, hatte er seine Gedanken verdrängt und sich soweit unter Kontrolle, dass er begann, seine Umgebung wieder bewusst wahrzunehmen.
    »Es ist vorbei«, sagte er. »Es nimmt mich halt immer wieder mit.«
    »Nehmen Sie es nicht so tragisch«, munterte sie ihn auf. »Es ist ja gut gegangen, nicht wahr?«
    Jung mochte darauf nichts erwidern und ging mit gesenktem Kopf über den Friedhof
     
    *
     
    »Greta, wo ist Udo?«
    Eine hohe, unmelodische Stimme rief aus dem Gräberfeld zu ihnen

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