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Pelte, Reinhard

Pelte, Reinhard

Titel: Pelte, Reinhard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inselbeichte
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Schwindelgefühle, aber die müsste Holtgreve eigentlich auch ohne Trofanil haben.«
    »Endert, können wir jetzt mal ernst werden?«, unterbrach Jung ihn erneut. Sein Langmut war erschöpft.
    »In Ordnung, Herr Kollege. Was ich aufgezählt habe ist kein Scheiß, sondern bittere Wahrheit. Ein Arzt, der seinem Patienten glaubt, Trofanil verschreiben zu müssen, muss eine deutliche und äußerst gravierende Depression diagnostiziert haben. Andernfalls handelt er fahrlässig, meiner Meinung nach.«
    »Was kann denn der Grund für eine derartige Depression sein?«
    »Der Zustand der Welt im Allgemeinen reicht dafür nicht aus, das gebe ich gerne zu.« Endert machte eine kurze Pause und fuhr wenig später im Stile eines Dozenten fort: »Die Ursachen sind schwer zu fassen, weil sie vielfältig sind. Das geht von genetischen Dispositionen über neurobiologische Faktoren bis zu Medikamentenmissbrauch. Wann und wie eine Depression ausbricht, dafür gibt es diverse Erklärungstheorien.«
    »Welcher Auslöser ist am häufigsten?«, fragte Jung gespannt.
    »Da bin ich eigentlich überfragt, weil ich in erster Linie an Leichen arbeite. Als interessierter Beobachter würde ich allerdings zu der Auffassung neigen, dass sie hauptsächlich auf der psychischen Ebene zu finden sind.«
    »Was heißt das konkret?«, drängte Jung.
    »Kaputte Familienverhältnisse, persönliche Katastrophen, unbearbeitete Traumata, Dauerüberlastung, exorbitante Erwartungshaltungen. Na ja, eigentlich das, was wir überall zu sehen kriegen.«
    »Aber nicht alle Menschen gehen damit gleich gut um, nicht wahr?«, warf Jung ein.
    »Das ist nur zu offensichtlich, ja. Meiner Meinung nach ist für eine mehr oder weniger gute Bewältigung einer Depression ein mehr oder weniger gesundes Gefühlsleben verantwortlich.«
    »Was heißt das denn nun schon wieder? Nun werden Sie endlich mal konkret, Herr Doktor.«
    »Ist ja gut, Herr Kollege, nun mal langsam, nicht immer diese Hektik. Ich will sagen, man sollte seine Gefühle zuerst einmal wahrnehmen und akzeptieren. Einfach zulassen, das ist das Geheimnis. Sie sich nicht ausreden, selbst wenn sie unangenehm sind, oder sich bequatschen lassen, dass alles ganz anders ist oder sie nur eingebildet seien. Das Wichtigste ist, sich nicht von seinen Gefühlen abzulenken oder ablenken zu lassen.«
    »Wenn wir das alle täten, wo kämen wir da hin, Herr Doktor?«
    »Ich habe ja nicht gesagt, dass Sie Ihren Hass und Ihre Wut austoben sollen, Herr Kollege. Sie sollen sie spüren, mehr nicht.«
    »Klasse, und dann sitz ich mit meinen Gefühlen da. Und was tue ich damit?«
    »Nichts. Einfach aushalten, bis sie abgeflaut sind. Aber Sie haben ja eine bessere Lösung gefunden, Herr Kollege.«
    »Jetzt werden Sie aber persönlich, Endert.« Jung fühlte sich angegriffen.
    »Das war meine Absicht, Herr Oberrat. Unpersönlich sind Holtgreve und Compagnons. Und Sie sehen ja, was dabei heraus kommt.«
    Jung sah ein, dass er Endert nicht bremsen konnte. Seine Ausführungen lösten in ihm zwiespältige Gefühle aus. Darüber hatte er die sachlichen Inhalte fast vergessen. Schließlich sagte er übertrieben höflich: »Gut, Herr Doktor, ich glaube, Sie haben meine Neugierde in Sachen Trofanil erschöpfend befriedigt. Ich danke Ihnen vielmals.«
    »Aber gerne doch, Herr Oberrat. Stets zu Ihren Diensten. Und nehmen Sie meine Worte nicht zu ernst. Sie werden noch Zeiten erleben, wo Sie darüber lachen werden, glauben Sie mir. Tschüss auch.«
    »Tschüss, Herr Doktor Endert.«
    Endert ist doch ein komischer Kauz, dachte Jung, als er den Hörer zurücklegte.
     
    *
     
    Er schlug noch einmal die Akte auf und suchte den Fahndungsaufruf, mit dem das Mädchen gesucht worden war. In der langen Liste der Gegenstände, die einen Hinweis auf das Mädchen hätten geben können, fand er einen Fahrradwimpel (schwarz-weiß) und einen Inhalator aufgeführt. Er musste sich eingestehen, dass er bei der ersten Durchsicht über diese beiden Punkte nicht gestolpert war.
    Er fragte sich, wer damals die Ermittlungen im Fall Imke Carl geleitet hatte. Als er den Namen las, seufzte er und atmete tief durch.
    Kopper-Carlson war ein Fall für sich. Er war mittelgroß, hager, rotblond, gab sich betont ruhig und besonnen. In der Polizei-Inspektion trat er als der konservative Hanseat mit einer Vorliebe für britisches Understatement auf. Zu diesem Zweck hatte er sich einen Schnauzer wachsen lassen und stellte seine Armbanduhr 20 Minuten nach. Er las in jeder freien Minute

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