Pelte, Reinhard
herüber. Jung sah sich um und entdeckte einen dicken Jungen vor einem Grab stehen, auf das gerade frische Blumen gelegt worden waren.
»Moin Peter. Udo ist nicht da«, rief Greta Driefholt zurück. »Ich gehe kurz rüber«, sagte sie zu Jung gewandt. »Entschuldigen Sie mich für einen Moment.«
»Ich komme mit«, erwiderte Jung.
Sie gingen Seite an Seite die paar Meter, bis sie vor dem Jungen standen. Er trug keine Kopfbedeckung und seine Winterkleidung hing an ihm, als wollte er sie am liebsten loswerden. Unter seinen kurzen strubbeligen Haaren sah er aus geröteten runden Augen zu ihnen herüber. Sein Mund stand offen. Er hatte seine Arme und Hände angewinkelt und hielt die Daumen mit den Fingern fest umschlossen.
»Wo ist Udo?«, fragte er noch einmal.
»Udo ist weg. Du hast Blumen gebracht, nicht wahr?«
»Ja, für Udo.«
»Udo ist bald wieder da. Du musst jetzt nach Hause gehen, Peter.«
»Ja, Peter geht jetzt nach Hause. Für Udo.«
»Tschüss Peter. Grüß deine Mama von mir.«
»Tschüss Greta. Grüße an Mama. Von Greta.«
Er lief an ihnen vorbei in Richtung des Hinterausganges, der in das Wäldchen führte.
»Er ist furchtbar lieb und ganz harmlos«, erklärte sie Jung.
»Warum legt er mitten im Winter Blumen auf das Grab?«
»Das ist sein Tick. Er hat Udo öfter mal Blumen auf das Grab legen sehen. Nun glaubt er, es für ihn weitermachen zu müssen. Einfach so.«
»Wer liegt denn da begraben?«
»Der Tote, den Udo nicht einäschern konnte, weil die Anlage ausgefallen war.«
»Der, von dem Sie gestern erzählten?«, fragte Jung ungläubig.
»Ja, genau.«
»Und danach war dann alles anders? Sagten Sie das nicht?«
»Ja, das ist richtig«, erwiderte sie.
Jung dachte angestrengt nach. Hier war nicht der richtige Platz und nicht die richtige Zeit, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Er entschloss sich spontan, seinen Besuch abzubrechen und so schnell wie möglich nach Flensburg zurückzukehren. Er konnte nur hoffen, nicht unhöflich zu erscheinen. Schließlich wollte er noch einmal zurückkommen, zu ihr und zu seinem Klassenkameraden. Er wollte unbelastet und in aller Ruhe mit Udo sprechen können.
»Nehmen Sie es mir sehr übel, wenn ich mir die Kirche das nächste Mal ansehe?«, fragte er bittend. »Ich komme wieder. Ich will Udo treffen. Wann würde es am besten passen? Was meinen Sie?«
»Lassen Sie ihn ein paar Tage verschnaufen. Vielleicht am Sonntag, aber erst nach 11 Uhr. Er hat vormittags Gottesdienst. Ich kann uns einen ordentlichen Sonntagsbraten machen. Was halten Sie davon?«
»Das ist wirklich verlockend. Aber dieses Mal lieber nicht. Ich möchte ihn überraschen. Bitte erzählen Sie nichts. Versprechen Sie mir das?«
»Ja. Wie Sie wollen. Gehen wir«, entgegnete sie resolut.
Sie gingen über den Friedhof zurück zum Eingang. Dabei zeigte sie ihm einige originelle Grabsteine mit Namen und Schicksalen, die nur auf Föhr zu finden waren. Jung hörte ihr gerne zu. Es lenkte ihn ab, und er konnte sich entspannen. Sie machte ihn auf den Grabstein von Jung Göntje aufmerksam. Sie war die Frau von Jakob aus Oldsum und Mutter von vier Söhnen und fünf Töchtern gewesen. Er war Seefahrer und lange Jahre Kapitän. Jung drängte sich die Frage auf, wie Göntje und Jakob es hingekriegt hatten, so viele Kinder in die Welt zu setzen. Damals waren die Schiffe Monate, wenn nicht sogar Jahre auf den Meeren unterwegs. Aber vielleicht war Jakob ja Küstenschiffer gewesen. Jung Göntje war jedenfalls Großmutter von 28 Enkeln und Urgroßmutter von vier Urenkeln. Sie starb am 12. Mai 1857 im Alter von 78 Jahren und drei Tagen, sieben Jahre vor ihrem Mann.
Jung ging nachdenklich neben Greta Driefholt her. Er war jetzt in den Fünfzigern, sein Sohn ein Twen und seine Tochter ein Teenager. Beide machten nicht den Eindruck, als wenn sie ihn in absehbarer Zeit zum Großvater machen wollten.
Sie fuhren zurück zur alten Pastorei. Jung packte seine wenigen Sachen und bezahlte die Übernachtung. Sie berechnete ihm 50 Euro für die Nacht und vergaß nicht, die obligatorische Kurtaxe zu erheben. Für das, was er dafür bekommen hatte, war der Preis lächerlich gering, dachte Jung. Sie verabschiedeten sich herzlich voneinander. Jung hatte nicht den Eindruck, dass er sie verstimmt hatte. Vielleicht freute sie sich auf ein Wiedersehen und die Aussicht, mit ihm ein oder zwei Gläser Wein trinken zu können. Die Regeln der Gastfreundschaft würden Udo sicherlich daran hindern, engstirnige Einwände
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