Pelte, Reinhard
Glaubensgemeinschaft, vielleicht lag es am Predigttext oder an Udos feiner Auslegung, Jung vergaß jedenfalls für den Rest des Gottesdienstes sein Anliegen, das ihn hierher geführt hatte.
»Der Herr behüte euch und beschütze euch, der Herr lasse sein Angesicht leuchten über euch und schenke euch seinen Frieden. Denn der Frieden Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesum Christum, unseren Herrn. Amen.«
Nachdem Udo seiner Gemeinde mit ausgebreiteten Armen den Segen erteilt hatte, wechselte Jung zurück in die herbe Gegenwart. Der Organist improvisierte über einen Choral von Dietrich Buxtehude. Udo strebte den Mittelgang entlang zum Ausgang. Die Gemeindemitglieder folgten ihm. Er schüttelte vor dem Kirchenportal zum Abschied ihre Hände und wechselte ein paar leise Worte mit ihnen. Das Klimpern und Klappern der Münzen in den Opferstöcken ebbte ab. Jung war sitzen geblieben und verließ die Kirche als Letzter. Udo reichte ihm die Hand, und Jung hielt sie fest.
»Ein neues Gesicht. Sind Sie Gast auf der Insel?«, fragte Udo unbewegt.
»Ja, aber ich bin deinetwegen hier«, erwiderte Jung.
Er sah ihm gerade in die Augen. Udos Blick kam aus dunklen Höhlen. Ein entferntes Staunen huschte über sein Antlitz.
»Ich bin Tomas Jung, wir haben zusammen Abitur gemacht.«
Eine kurze Pause entstand. Jung ließ die Hand seines alten Klassenkameraden los.
»Tomas Jung«, sagte Udo sinnend. »Ja, ich erinnere mich. Dein Spitzname war Pingo, nicht wahr?«
»Richtig, ja.«
»Was führt dich zu mir?«, Udos Stimme hatte sich belebt, ließ aber keine große Neugierde erkennen.
»Der Fernsehbericht über deine Schneehochzeit«, sagte Jung einfach.
»Ach ja. Furchtbar lästig. Du bist nicht der Einzige, der mich erkannt hat.« Udos Stimme hatte sich weiter belebt.
»Ich wohne nicht weit weg, in Flensburg.« Jung hielt sich bewusst zurück.
»Ich verstehe. Nett von dir vorbeizuschauen.«
»Ich sah dich und dachte, das muss er sein. Ich habe dich erst auf den zweiten Blick erkannt.«
»Ja, die Jahre gehen nicht spurlos an uns vorbei. Willst du mit zu mir kommen? Wir können eine Tasse Tee trinken.«
»Danke, gern«, erwiderte Jung freudig. Udo schloss die Kirchentür ab. Jung war erleichtert, dass er es ihm einfach gemacht hatte. Während sie nebeneinander über den Friedhof gingen, sah Jung Udo von der Seite an. Kein aufdringlicher Geruch oder sonstige Auffälligkeiten, die er und seine Frau vermutet hatten, ließ sich erkennen. Nur sein langer Talar erinnerte Jung an Frauenkleider. Dazu fiel ihm ein, dass die Kleiderordnung der katholischen Kirche weit mehr Anlass gab, sich über die Kompensation verdeckter Traumata und ungelebter Wunschträume ihres Personals Gedanken zu machen. Er schüttelte innerlich den Kopf. Waren seine Gedankenassoziationen nicht abwegig? Gab es nicht auch Priester und Pastoren aus Berufung und Glauben, die die Kleiderordnung ihrer Kirche akzeptierten wie das heilige Abendmahl?
»Was hat dich auf diese Insel verschlagen, Udo?«, begann Jung ein Gespräch.
»Ich hatte schon von jung auf eine Vorliebe für abgelegene Plätze«, erwiderte er leise lächelnd.
»Dann hast du Glück gehabt. Es ist schön hier.«
Udo erwiderte nichts darauf. Er ging den Kopf gesenkt das Gräberfeld entlang. Jung entdeckte die mit Blumen geschmückte Grabstelle. Er blieb vor dem Grab stehen. Der Todestag des Verstorbenen lag zwei Tage vor dem Tag des Verschwindens von Imke Carl. Udo war vorausgegangen und sah sich jetzt nach ihm um.
»Wer liegt da begraben?«, fragte Jung, als er zu Udo aufgeschlossen hatte.
»Warum interessiert dich das?« In Udos tiefen Augen glaubte Jung ein Flackern zu sehen.
»Nicht jeder Tote bekommt mitten im Winter Blumen aufs Grab. Es muss ein besonderer Mensch gewesen sein.«
Udo hatte sich abgewandt und strebte ohne ein Wort der Erwiderung dem Ausgang zu. Jung folgte ihm auf den Parkplatz jenseits der Straße.
»Fahre mir einfach nach. Es ist nicht weit.«
»Okay, ich komme hinter dir her. Bis gleich.«
Sie bestiegen ihre Autos und fuhren die kurze Strecke bis zur alten Pastorei. Jung fragte sich ängstlich, ob Greta Driefholt ihnen die Tür öffnen würde. Er wollte Udo nicht zu früh mit der Tatsache konfrontieren, dass er schon einmal hier gewesen war. Zum Glück schloss Udo die Haustür mit einem Schlüssel auf, den er unter seinem Talar hervorgezogen hatte.
Sie betraten die Diele.
»Ich zieh mich rasch um. Geh schon voran
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