Pelte, Reinhard
Schneewehen. Die offenen Felder glänzten braun und schwarz in der weiten Landschaft. Jung genoss die Autofahrt, obwohl ihn auf der Insel eine Aufgabe erwartete, die ihn bedrückte und ihm Kopfzerbrechen bereitete. Zu welchen Konsequenzen würde er gezwungen sein, wenn Svenja recht behielte? Er fühlte sich unwohl, als er an die Taktik dachte, die er sich zurechtgelegt hatte. Er würde über sich und die Gründe seines Besuchs lügen oder zumindest schweigen müssen, was aufs Gleiche hinauslief.
In Dagebüllhafen rollte er auf eine fast leere Fähre. Die Durchsagen über die Bordsprechanlage waren bald verklungen. Er stellte sich an Oberdeck und ließ sich den Wind um die Nase wehen. Das verscheuchte für eine Weile seine trüben Gedanken. Die See war kabbelig. Es herrschte Niedrigwasser, und auf den Sandbänken an Steuerbordseite, nach Sylt zu, sah er einige Robben, die auf dem flachen Sand zu schlafen schienen. Am westlichen Horizont konnte er die flachen Konturen und den Leuchtturm von Amrum ausmachen. Davor erhob sich Föhr und die Silhouette von Wyk aus dem Wattenmeer. Es dauerte nicht lange, und sie hatten im Fährhafen auf Föhr fest gemacht.
Es war Sonntag. Jung wollte den Vormittagsgottesdienst in St. Laurentii besuchen und einen ersten Eindruck von Udo als Seelenhirten seiner Gemeinde gewinnen. Er fuhr zügig auf der Ausfallstraße zu den Inseldörfern über Nieblum nach Süderende. Er glaubte, die Schafe an der Straße wiederzuerkennen, die ihn mit gelangweiltem Blick verfolgten, und er lachte bei dem Gedanken, dass es ihnen genauso gehen könnte wie ihm. Er hatte Mühe, auf dem Parkplatz gegenüber der Kirche einen freien Platz zu entdecken und fand die Kirche gut gefüllt. In der letzten Bankreihe setzte er sich auf einen der freien Plätze.
Das Kircheninnere war glanzlos, fast karg und ungewohnt hell. Wenige Kirchenbilder schmückten die großen, weiß gekalkten Wände. Jung zählte von seinem Platz aus nur drei Bilder. Die Sonne schien, von jeglichem Buntglas ungebrochen, durch schlichte Scheibenfenster ins Kircheninnere. Ihr Licht fiel auf das einsame Modell einer dreimastigen Kriegskogge, das im Seitenschiff von der Decke hing. Die Messingkandelaber unter der Decke und an den Wänden fielen auf. Ihre Pracht und ihr Glanz wirkten in dem schlichten Kirchenschiff heimatlos.
Der Organist beendete gerade ein Präludium von Bach. Udo stand vor seiner Gemeinde und begrüßte sie mit leiser, strapazierter Stimme: ›Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes‹. Die Gemeinde antwortete laut und deutlich: ›Amen‹. Jung kam sein Klassenkamerad im Talar noch fremder vor als der Mann, den er im Fernsehen gesehen hatte. Sein Körper war unter dem langen, schwarzen Gewand vollständig verschwunden. Hager, zurückgenommen und gebeutelt stand er vor dem Altar unter dem Kreuz, die Inkarnation eines Schmerzensmannes, dem sein Gott tiefe Wunden in das schmale, blasse Gesicht geschlagen hatte. Nur sein grauer, strubbeliger Haarschopf und die knochigen Schultern verströmten den Hauch eines verbliebenen Trotzes gegen ein unverdientes Schicksal. Sein Anblick erschütterte Jung.
›Unsere Hilfe steht im Namen des Herren‹, ergänzte Udo leise. Die Gemeinde nahm laut und deutlich seine Worte auf: ›der Himmel und Erde gemacht hat. Wir bekennen Gott, dem Allmächtigen, dass wir gesündigt haben in Gedanken, Worten und Werken. Wir bekennen unsere Schuld. Gott erbarme sich unser, er vergebe uns unsere Sünde und führe uns zum ewigen Leben.‹
Jung hatte an Udos Lippen abgelesen, dass er den Text leise mitgesprochen hatte. Nun sprach er allein weiter: ›Nimm von uns Herr, unsere Sünde und verleih uns, dass wir mit reinem Herzen vor dein Angesicht treten und dich loben und preisen. Durch Jesus Christus, unseren Herrn.‹ Ein lautes Amen der Gemeinde beschloss den ersten Teil der alten Liturgie.
Jung sang das anschließende Kirchenlied mit. Es war das Lied, dessen Text er im Bach-Zimmer des alten Pastorats an der Badezimmertür gelesen hatte. Er kam sich schlecht vor. Eigentlich durfte er nicht hier sein, dachte er. Udo predigte über Lukas 11, 5-13. Er predigte nicht von der Kanzel, sondern stellte sich in den Gang zwischen die Bankreihen und sprach inmitten seiner Gemeinde zu ihr. Seine Predigt war kurz. Er sprach leise. Seine Zuhörer hingen an seinen Lippen, keiner tuschelte, hüstelte oder schnäuzte sich die Nase. Die Kinder blieben ruhig. Vielleicht lag es an der Intensität der
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