Pelte, Reinhard
die über dem Wasser schwebende Terrasse. Er ließ den Blick schweifen über die Marina links davon, das Hafenkontor und das hässliche Silo der Raiffeisengenossenschaft am Harniskai. Dahinter reihten sich alte Mietshäuser, manche hübsch renoviert, manche, wie die in der Kurzen Straße, abgesackt, schief und kurz vor dem Abriss. Den Hang hinauf, nach Jürgensby schob sich ein unübersichtliches Gewirr aus Häuschen und Häusern, die durch enge Gassen, Treppen und Wege verbunden waren. Dazwischen kleine Plätze, Bäume, Buschgruppen und Kinderspielplätze. In Richtung Hafenausgang wurde das winklige Viertel von dem Neubau des regionalen Telekom-Anbieters abgeschlossen. Darüber erhob sich St. Jürgen wie das Mahnmal für eine bessere Welt. Und stadteinwärts, oberhalb der Hafenspitze, wachten die massiven Blocks hübscher Altbauten wie eine freundliche Festung über der Stadt, wehrhaft und doch einladend.
Er liebte diesen Anblick. Er liebte seine Stadt, gestand Jung sich ein. Er drehte sich um und schloss das Fenster.
*
Jung hatte beschlossen, den Rest des Tages freizunehmen. Er glaubte, das verdient zu haben, und belohnte sich selbst, weil es kein anderer tat. Nachdem er seine Jacke vom Haken genommen und das Büro verlassen hatte, kam ihm im Treppenhaus Holtgreve entgegen. Sein Chef strebte in Richtung Hofausgang, trug einen grauen Borsalino auf dem Kopf und einen dunkelblauen Wollmantel. Er hätte von Armani sein und 3.000 Euro kosten können. Jedenfalls legte die Attitüde, mit der der Leitende die Treppe hinunterstolzierte, diese Vermutung nahe. Wahrscheinlicher war jedoch, dass Holtgreve ihn bei C&A im Winterschlussverkauf erstanden hatte.
»Guten Morgen, Herr Holtgreve«, begrüßte ihn Jung.
»Guten Tag, Jung. Was macht die Arbeit?«
»Haben Sie schon etwas von der Amtskirche gehört?«, entgegnete ihm Jung betont höflich.
»Bis jetzt nicht. Ich schätze kein Aufsehen, das wissen Sie ja.«
»Argumentum baculinum« {23} erwiderte Jung nach wie vor höflich.
»Dann ist ja alles in Ordnung.«
Sie gingen zusammen das Treppenhaus hinunter bis zu Petersens Wachstube. Holtgreve verabschiedete sich. »Einen schönen Tag noch, Jung.«
»Guten Tag, Herr Holtgreve.« Jung ließ seinen Chef gehen. Er selbst blieb noch vor der Wachstube stehen.
»Na, Petersen, was liegt an?«
»Was soll schon anliegen? Immer das Gleiche.«
Jung mochte keine Antwort aus der großen Kiste von Unverbindlichkeiten herauskramen. Stattdessen stellte er apodiktisch fest: »Ich gehe. Tschüss Petersen.«
»Schönen Feierabend, Herr Jung.«
Da war sich Jung nicht so sicher. Er dachte an Boll und daran, dass er ihn informieren sollte. Das war er ihm schuldig. Er hatte ihm geholfen. Wer hatte ihm noch geholfen? Svenja, Bär und all die anderen, die sich ihrer Hilfe für ihn wahrscheinlich nie bewusst geworden waren. Und Greta Driefholt? Der Gedanke an sie erfüllte ihn mit gemischten Gefühlen. Er gestand sich ein, dass er vor einem Wiedersehen mit ihr Manschetten hatte. Er lächelte gequält und kam sich schlecht vor. Ihn erfasste urplötzlich eine stille aber unumstößliche Entschlossenheit. Er musste Urlaub nehmen. Als er sein Auto aufgeschlossen hatte, wusste er, wo er sich erholen wollte. Die Telefonnummer, die sein alter Klassenkamerad ihm gegeben hatte, lag zu Hause auf seinem Schreibtisch unter dem Briefbeschwerer, einem aus schwerem Stein modelliertem Flusspferd.
Epilog
Sie bestieg ihr Fahrrad. Ihr Bruder winkte ihr von der Haustür freundlich zum Abschied zu. Sie fühlte sich sicher, als hätte er seinen Mantel über sie gebreitet, der sie ewig beschützen würde. Er war ihr großer Bruder, und sie liebte ihn, weil er freundlich und stark war. Er beschützte sie: in der Schule vor den blöden Jungs, zu Hause vor den übermächtigen Ansprüchen der Mutter. Sie fuhr an dem Kleinlaster vorbei, der vor dem Hofladen geparkt hatte. Der Mann auf dem Beifahrersitz sah ihr freundlich nach. An der Ausfahrt zur Straße blickte sie sich noch einmal um. Hauke war schon wieder ins Haus getreten und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Sicherlich kümmerte er sich um den Kunden, der aus Husum gekommen war, um Gemüse und Fleisch zu kaufen. Wenn Vater und Mutter unterwegs waren, übernahm er das. Wo war ihr Wimpel? Sie hielt an und stieg vom Fahrrad. Die dünne Glasfiberstange fehlte. Sie hatte den Wimpel selbst aus schwarzer und reflektierender, weißer Kunststoffplane genäht. Beim Muster hatte sie die Tastatur eines
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