Pendelverkehr: Ein Eifel-Krimi (German Edition)
vielleicht. Die kommt aus der Großstadt; da
sterben viele Menschen allein.«
Wie meine Mutter. Was für Schuldgefühle mich immer noch plagen, wenn
ich an ihren einsamen Tod denke!
»Ich wäre schon gern bei meiner Mutter gewesen«, sage ich leise.
»Vor ihrem Tod war ich fast ständig bei ihr, aber ausgerechnet als es
passierte, war ich woanders.«
»Wie so oft«, sagt Hein nickend. »Als Mutter Agnes noch klar war,
hat sie immer gesagt, die Lebenden halten die Leute fest, die weiterziehen
wollen. Aber das können sie nicht, weil sie die Liebe der ständig um sie herumwuselnden
Familie an die Erde kettet. Wenn hier in der Eifel einer im Sterben liegt, hält
die Verwandtschaft permanent Tag- und Nachtwache. Das ist so üblich, und
irgendwie haben wir das bei Jupps Mutter ja auch immer so gemacht.«
Er hält inne, zieht ein verkrumpeltes Taschentuch hervor und putzt
sich geräuschvoll die Nase. »Wir fanden das selbstverständlich. Bis sie mir
eines Tages was sagte …«
Ein Windstoß fährt wie ein Gruß aus einer anderen Welt durch den
buschigen Baum. Wir blicken auf. Rote Beeren rieseln herab. Eine fällt mir auf
den Kopf. Ich pflücke sie aus meinem ungekämmten Haar und breche sie auf, während
Hein weiterspricht: »Die meisten können erst dann in Ruhe sterben, wenn die
Wache aufs Klo geht, sagte sie, und dann: Manchmal wünsche ich euch einen
richtig gründlichen Pitter-zau-Dich.«
»Einen was?«
»Dünnschiss«, übersetzt Jupp flüsternd.
Die Beere mit ihrem todbringenden Samen tropft mir aus den Fingern.
»Ja, so war sie auch«, sagt Hein nickend. »Ganz nüchtern. Musste sie
sein, bei ihrem schweren Leben. Das können wir uns heute gar nicht vorstellen,
was die alles mitgemacht hat. Wir sind in eine glücklichere Zeit hineingeboren.
Sie hat auch mal gesagt, dass Sterben wie Gebären ist; beides sollte die Frau
gefälligst allein machen.«
Von beidem verstehe ich nichts. Ich weiß nur, dass mir ein männlicher
Kollege früher gestanden hat, sich nicht vor der Niederkunft seiner Frau zu
fürchten, sondern vor deren Erwartenshaltung, er müsse dabei sein. Beim zweiten
Kind hat er sich dann auch gegen das Dabeiseinmüssen gewehrt.
Unvergesslich ist mir ein Modeshooting für meine Zeitschrift, als
ein schwangeres Model zusammenbrach. Sie war erst im dritten Monat, aber ein
Gedanke machte sie fix und fertig: Ihrem liebenden und sie anbetenden Gatten
würden in absehbarer Zeit blut- und schleimverschmierte Ein- und Ausblicke auf
ihren Körper gewährt werden. Die würde er in seiner Erinnerung speichern. Und
das würde ihren wunderbaren Sex kaputt machen. Darum hasse sie dieses Kind
jetzt schon. Eine Nacht lang habe ich auf das junge Ding eingeredet, ihr Baby
trotzdem zu bekommen. Hat sie auch und auf meinen völlig rückständigen Rat hin
den Mann aus dem Kreißsaal geschickt.
Die beiden sind übrigens die Einzigen aus meiner alten Welt, die mir
regelmäßig zum Geburtstag schreiben. Immer mit dem neuesten Foto ihrer Tochter Katja. Die ist heute neunzehn, macht gerade Abitur und hat
noch drei Geschwister.
Aus all diesen Dramen lässt sich eigentlich nur eines schließen:
Geborenwerden und Sterben sind Geheimnisse. Und wie das mit Geheimnissen so
ist, sollte jeder bei seinem eigenen entscheiden, ob er es mitteilen oder für
sich behalten möchte. Mutter Agnes hat ihre Entscheidung überdeutlich
kundgetan.
»Du wusstest, was Jupp und Agnes vorhatten?« Meine eigene Stimme
klingt mir plötzlich fremd in den Ohren. Was fällt mir ein, sich in diese so
private Angelegenheit der beiden Männer einzumischen?
»Nicht genau«, erwidert Hein. »Aber als mir Jupp simste, seiner
Mutter gehe es besser, und das würden sie jetzt ausnutzen, habe ich mir schon
so was gedacht. Aber die Eibe wäre mir nicht im Traum eingefallen.«
»Mir auch nicht«, gesteht Jupp. »Erst als sie das mit dem Pferd
sagte, da habe ich den Baum gesehen …« Er schluckt.
»… und ihr dann ein paar Beeren in die Hand gelegt«, setzt er fast
unhörbar hinzu.
Ich zitiere nichts aus dem Obduktionsbericht. Vielleicht kennt Jupp
ihn. Ich hoffe nicht. Er sollte nicht wissen, dass seine Sterbehilfe versagt
hat. Ich mag mir nicht vorstellen, wie verzweifelt Mutter Agnes nach den Nadeln
gefahndet hat. Wie sie sich die in den Mund gestopft, darauf herumgekaut und
sie verschluckt hat. Ja, es stimmt schon, was Jupp gesagt hat; sie ist wohl in
gewisser Weise tatsächlich durch ihren Willen gestorben.
Es ist plötzlich sehr kalt geworden. Ich
Weitere Kostenlose Bücher