Pendergast 04 - Ritual - Höhle des Schreckens
einiger Entfernung im Unterholz gebettet und aus Zweigen eine Art Windschutz für ihn errichtet. Als dann die Indianer auftauchten, hat er die Zweige über sich gezogen.«
»Ich verstehe, Mr. Draper. Aber eine mit Zweigen bedeckte Mulde ist nicht gerade der ideale Aussichtspunkt, schon gar nicht während eines Sandsturms und etliche Meter von den Ereignissen entfernt. Trotzdem konnte Ihr Urgroßvater all das beobachten, was Sie uns so anschaulich geschildert haben. Er hat sogar die Geisterkrieger auftauchen und verschwinden gesehen.«
In Brushy Jims Augen lag ein zorniges Funkeln, er machte sogar Anstalten, aufzustehen. »Glauben Sie etwa, ich schwindle Ihnen was vor, Mr. Pendergast? Wir sitzen hier nicht über meinen Urgroßvater zu Gericht. Ich habe Ihnen nur erzählt, was mein Dad mir erzählt hat.«
»Dann haben Sie vermutlich eine eigene Theorie? Etwas, womit Sie sich den Ablauf der Ereignisse erklärt haben, Mr. Draper? Oder glauben Sie wirklich, dass es Gespenster waren?« Der alte Mann stand auf. »Der Ton, in dem Sie mit mir reden, gefällt mir nicht, Mr. Pendergast. Raus mit der Sprache, falls Sie irgendetwas andeuten wollen!«
Corrie hielt die Luft an. Sie schielte vorsichtshalber schon mal zur Tür.
»Ach, kommen Sie, Mr. Draper«, sagte Pendergast schließlich, »Sie sind kein Narr, Sie glauben nicht jeden Unsinn. Ichmöchte ja nur von Ihnen erfahren, wie Sie sich das Ganze wirklich erklären.«
Ein paar Sekunden lang schien die Luft zu knistern, dann hatte Brushy Jim sich wieder beruhigt. »Sie scheinen zu riechen, was mir durch den Kopf geht, Mr. Pendergast. Sie haben Recht, ich glaube nicht, dass die Indianer Gespenster waren. Heute sieht man das wegen der Bäume nicht mehr so deutlich, aber durch die Landschaft unterhalb der drei Hügel zieht sich eine dem Bachlauf folgende, leicht geschwungene Bodenfalte. Wenn die Cheyenne dieser Falte gefolgt sind und ihre Pferde am Zügel geführt haben, konnten die Posten sie nicht kommen sehen. Die Indianer mussten nur auf den Sandsturm warten und im richtigen Moment rasch aufsitzen und losreiten. Das würde den plötzlichen Hufschlag erklären. Und sie können auf dieselbe Weise wieder verschwunden sein, samt ihren Toten. Und was die Arapaho angeht…« Er lachte hämisch. »Ich habe nie gehört, dass einer von denen in der Lage ist, Spuren von Cheyenneindianern zu lesen.«
»Wie steht’s mit den toten Pferden der Cheyenne?«, hakte Pendergast nach. »Wie konnten die Ihrer Meinung nach einfach so verschwinden?«
»Sie sind nicht so schnell zufrieden zu stellen, Mr. Pendergast, wie? Auch darüber habe ich nachgedacht. Als ich acht Jahre alt war, habe ich mal gesehen, wie ein Dakotahäuptling in nicht mal zehn Minuten einen Büffel ausgeweidet und zerlegt hat, und so ein Büffel ist ein größerer Brocken als ein Pferd. Die Indianer essen Pferdefleisch, sie könnten ihre toten Pferde geschlachtet und zusammen mit ihren toten Kriegern vor sich auf die Satteldecke gepackt und mitgenommen haben. Die Eingeweide haben sie liegen lassen, mit denen konnten sie nichts anfangen, die wären nur eine unnütze Last gewesen. Und vielleicht hat mein Urgroßvater mit dem Dutzend toter Pferde ein bisschen übertrieben, vielleicht waren es nur drei.«
»Vielleicht«, stimmte Pendergast ihm zu. »Jedenfalls bin ichIhnen dankbar, dass Sie mir die Geschichte von den Fünfundvierzig so geduldig und aufschlussreich erzählt haben.«
Er stand auf und schlenderte zu dem Bücherregal an der Stirnwand der Blockhütte hinüber. »Aber ich verstehe noch nicht ganz, was das Massaker an den Hügeln mit diesem geheimnisvollen Fluch der Fünfundvierzig zu tun hat, über den niemand reden will?«
»Nun ja, Mr. Pendergast, es ist ja nicht gerade ein erfreuliches Thema.«
Als Pendergast sich umdrehte und ihn fragend ansah, fuhr Brushy Jim sich unruhig mit der Zunge über die Lippen, und schließlich gab er sich einen Ruck. »Also gut. Ich habe Ihnen ja erzählt, dass die Posten als Letzte getötet wurden. Nun, der Allerletzte, der dran glauben musste, war ein gewisser Harry Beaumont. Ein harter Bursche, er war der Anführer der Fünfundvierzig. Die Indianer waren wütend über das, was die Weißen ihren Frauen und Kindern angetan hatten, und sie wollten Beaumont dafür bestrafen. Darum haben sie sich nicht damit zufrieden gegeben, ihn zu skalpieren, sie haben ihn regelrecht von Kopf bis Fuß geschält.«
Pendergast stellte das Buch, in dem er geblättert hatte, ins Regal zurück.
Weitere Kostenlose Bücher