Pendergast 04 - Ritual - Höhle des Schreckens
»Geschält? Was meinen Sie damit.«
Brushy Jim wand sich sichtlich. »Nun, sie haben ihn so zugerichtet, dass die eigene Familie ihn nicht wieder erkannt hätte, nicht mal im Himmel. Und als sie mit ihm fertig waren, haben sie ihm die Stiefel aufgeschnitten und die Haut der Fußsohlen abgezogen, damit sein Geist sie nicht verfolgen konnte. Und dann haben sie seine Stiefel vergraben, den einen links, den anderen rechts von den Hügeln. Um sicherzugehen, dass sein böser Geist für immer dort gefangen blieb.«
Pendergast nahm das nächste Buch aus dem Regal und fing darin zu blättern an. Aber seine nächste Frage bewies, dass er aufmerksam zugehört hatte. »So weit verstehe ich das, aber was hat es mit dem Fluch auf sich?«
Brushy Jim zuckte die Achseln. »Da erzählt Ihnen jeder etwasanderes. Einige glauben, dass Beaumonts Geist immer noch an den Hügeln spukt und nach seinen Stiefeln sucht. Andere vermuten schlimmere Dinge, auf die ich aber in Gegenwart einer jungen Lady nicht näher eingehen will. Aber eins kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen: Unmittelbar bevor Beaumont starb, hat er den Boden rings um sich in alle Ewigkeit verflucht. Mein Urgroßvater in seinem Versteck hat den Fluch mit eigenen Ohren gehört.«
Pendergast nickte, aber diesmal schien er irgendwie abgelenkt zu sein. Er blätterte in einem schmalen, in billiges Leinen gebundenen Bändchen, dessen linierte Seiten jemand mit naiven Zeichnungen ausgeschmückt hatte.
»Ach, die alte Schwarte haben Sie erwischt«, brummelte Brushy Jim. »Mein Dad hat sie vor vielen Jahren einer Soldatenwitwe abgekauft. Ist eine billige Fälschung. Ich wollte die Scharteke schon lange auf den Müll werfen.«
»Nein«, widersprach Pendergast, »das ist keine Fälschung. Allem Anschein nach handelt es sich um ein echtes indianisches Beschwörungsbuch. Und die Seiten scheinen sogar vollständig erhalten zu sein.«
»Ein Beschwörungsbuch?«, fragte Corrie, »Was ist das?«
»Wenn den Cheyenne amerikanische Armeetagebücher in die Hände fielen, haben sie sie mit Zeichnungen von besonderen Ereignissen ausgeschmückt, zum Beispiel von der Jagd, von Schlachten und Stammesversammlungen. Auf die Weise kam im Laufe der Jahre eine Art gezeichnete Beschreibung des Kriegerlebens zustande. Die Indianer haben solchen Büchern übernatürliche Kräfte zugeschrieben. Wenn man zum Beispiel eine Seite herausriss und sich auf die Haut legte, wurde man unbesiegbar. Das Naturkundemuseum in New York besitzt so ein Buch. Es stammt von einem Cheyenne namens Little Finger Nail. Nur, bei ihm hat der Zauber nicht gewirkt. Man kann deutlich sehen, wo sich die Kugel eines Soldaten durch das Beschwörungsbuch gebohrt hat. Und bedauerlicherweise auch durch Little Finger Nail.«
Brushy Jim starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. »Sie meinen…Sie wollen damit sagen, dass das alte Ding, das so viele Jahre hier herumliegt…dass es echt ist?«
Pendergast nickte. »Und nicht nur das, es dürfte sogar sehr wertvoll sein. Bei dieser Szene hier handelt es sich offensichtlich um die symbolische Darstellung von Little Bighorn. Und diese Zeichnung…«, er schlug eine der letzten Seiten auf, »…halte ich für die Darstellung eines religiösen Geistertanzes.« Er klappte das Buch zu und reichte es Brushy Jim. »Es handelt sich vermutlich um das Tagebuch eines Siouxhäuptlings und ist also von erheblichem Wert.«
Der Alte hielt das Buch mit zitternden Händen fest, als fürchte er, es könne ihm aus den Fingern rutschen.
»Für den Fall, dass Sie es verkaufen wollen, sollten sie sich klar machen, dass es etliche hunderttausend Dollar wert ist«, fuhr Pendergast fort. »Es bedarf allerdings der Restaurierung durch einen erfahrenen Fachmann. Das holzhaltige Papier ist hochgradig anfällig für Säurefraß.«
Brushy Jim hielt das Buch wie einen neu entdeckten Schatz an seine Brust gedrückt. »Ich werde es lieber behalten, Mr. Pendergast. Das viele Geld würde mir kein Glück bringen. Aber wo kann man so was restaurieren lassen?«
»Nun, ich kenne zufällig einen Fachmann, der bei beschädigten, von Verfall bedrohten Büchern wie diesem wahre Wunder wirkt. Wenn Sie möchten, nehme ich es gern an mich und bringe es ihm. Er wird mir bestimmt den Gefallen tun, und Ihnen entstehen dadurch natürlich keine Kosten.«
Brushy Jims Blick ruhte wie gebannt auf dem Buch. Dann sah er hoch und hielt es Pendergast wortlos hin.
Sie verabschiedeten sich ohne große Worte, aber in einer Atmosphäre, die fast
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