Pendergast 06 - Dark Secret - Mörderische Jagd
gute Stunde Konversation bei Weißwein auf ihrer Terrasse –, und doch hatte sie immer wieder an diesen Nachmittag zurückgedacht, als wäre etwas ganz Bedeutendes geschehen.
Dann gab es noch jenen zweiten Besuch – D’Agosta, der Polizist, war mit bleichem Gesicht und besorgter Miene allein zurückgekommen und hatte ihr die schreckliche Nachricht vom Tod Pendergasts überbracht. Erst in diesem fürchterlichen Augenblick war ihr aufgegangen, wie sehr sie sich darauf gefreut hatte, Agent Pendergast wiederzusehen – und wie überzeugt sie gewesen war, dass er fortan in ihrem Leben eine Rolle spielen würde.
Wie entsetzlich jener Tag gewesen war! Und wie sehr sie sich freute, jetzt, da sie diesen Brief erhalten hatte. Sie lächelte und überlegte, wie es wohl sein würde, Pendergast wiederzusehen. Sie liebte Verwicklungen und Intrigen über alles. Sie war nie vor etwas zurückgewichen, mit dem das Leben sie konfrontiert hatte. Ihre Impulsivität hatte sie zwar gelegentlich in Schwierigkeiten gebracht, aber sie hatte ihr auch ein farbiges und faszinierendes Leben beschert, das sie gegen nichts eintauschen wollte. Pendergasts geheimnisvolle Einladung kam ihr vor wie den Liebesromanen entsprungen, die sie früher, während ihrer Mädchenzeit, geradezu verschlungen hatte. Ein Wochenende, versteckt vor allen anderen auf Long Island, zusammen mit einem Mann, der sie faszinierte wie kein zweiter, gefolgt von einer Wirbelwindwoche in New York. Wie konnte sie ihm das abschlagen? Sie musste ja sicherlich nicht mit ihm schlafen – auch wenn der Gedanke an diese Möglichkeit sie leicht erröten ließ…
Sie trank ihren Champagner aus, der ganz vorzüglich war, wie immer in der ersten Klasse. Manchmal hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie erster Klasse flog – es kam ihr snobistisch vor –, aber auf einem Transatlantikflug war sie doch viel komfortabler. Nach den vielen Jahren, in denen sie in Ägypten an Grabungen teilgenommen hatte, war Viola Unannehmlichkeiten gewohnt, doch sie hatte nie einen Sinn darin gesehen, nach Unbequemlichkeit um ihrer selbst willen zu streben. Sie blickte auf ihre Uhr. In etwas mehr als vier Stunden landete sie auf dem John F. Kennedy Airport.
Es würde sicherlich interessant sein, den Bruder von Pendergast kennen zu lernen – diesen Diogenes. Man konnte schließlich eine Menge über einen Menschen lernen, wenn man seinen Bruder traf.
39
D’Agosta folgte Pendergasts gebeugter Gestalt, während der Agent um die Ecke der Ninth Avenue bog und auf der Little West 12th Street weiterschlurfte. Es war neun Uhr abends, und vom Hudson River fegte ein kalter Wind in die Stadt. Das ehemalige Schlachthofviertel – eingeklemmt in einen schmalen Korridor südlich von Chelsea und nördlich von Greenwich Village – hatte sich in den Jahren, in denen D’Agosta fort gewesen war, stark verändert. Inzwischen lagen schicke Restaurants, Boutiquen und High-Tech-Firmen zwischen den Fleischgroßhandelshäusern und Schlachthöfen. War schon merkwürdig, dass ein Profiler in dieser Gegend sein Büro aufgeschlagen hatte.
Auf halber Höhe des Häuserblocks blieb Pendergast vor einem zwölfstöckigen Lagerhaus stehen, das schon bessere Tage gesehen hatte. Durch die alten, mit Stahlgewebe verstärkten Fenster konnte man nicht ins Gebäude sehen, auf den Mauern der unteren Stockwerke haftete eine dicke Bußschicht. Nirgends war ein Schild irgendeiner Art zu erkennen, kein Name, nichts, das von der Existenz irgendeiner Firma kündete; es gab nur einen verwitterten Schriftzug, der direkt auf die alten Backsteine gemalt war: Price & Price Schweinefleisch Inc. Darunter befand sich eine überdimensionale verriegelte Toreinfahrt für die An- und Auslieferungen per Lkw, und daneben wiederum eine kleine Tür mit einem Klingelknopf ohne Namensschild. Pendergast hob die Hand und schellte.
»Ja?«, antwortete augenblicklich eine Stimme aus der Gegensprechanlage.
Pendergast murmelte etwas, dann hörte man, wie sich ein elektronisches Schloss öffnete. Hinter der Tür befand sich ein kleiner, weiß gestrichener Vorraum, der bis auf eine winzige Überwachungskamera hoch oben an der gegenüberliegenden Wand leer war. Die Tür schloss sich mit einem leisen Klicken. Pendergast und D’Agosta standen da und blickten dreißig Sekunden lang in die Kamera. Dann öffnete sich vor ihnen eine fast unsichtbare Tür. Nachdem sie einen weiß gestrichenen Korridor entlanggegangen waren, betraten sie einen schummrigen – einen
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