Pendergast 07 - Maniac - Fluch der Vergangenheit
Tür blieb er unwillkürlich stehen. Er konnte den Blick nicht vom großen Auge des Horus und den Hieroglyphen darunter wenden.
Möge Ammut das Herz all jener verschlingen, die diese Schwelle überschreiten.
Das war ein ausge sprochen gewöhnlicher und häufig verwendeter Fluch; er, Wicherly, hatte Hunderte von Gräbern unter einer ähnlichen Drohung betreten, und kein einziges Mal hatte er sich davon beeindrucken lassen. Das Abbild Ammuts an der gegenüberliegenden Wand war allerdings ungewöhnlich hässlich. Und dann war da noch diese merkwürdige, düstere Vergangenheit des Grabes, von der Sache mit Lipper ganz zu schweigen …
Die alten Ägypter glaubten an die magischen Kräfte der Anrufungen und Bilder, die auf die Wände der Gräber geschrieben waren, insbesondere an die Sprüche im Ägyptischen Totenbuch. Diese waren nicht bloßer Zierrat. Sie besaßen eine Macht, der die Lebenden hilflos ausgesetzt waren. Da er schon so lange Ägyptologie studierte und gelernt hatte, Hieroglyphen fließend zu lesen, und sich in die Glaubensvorstellungen der alten Ägypter vertieft hatte, glaubte Wicherly inzwischen fast selbst daran. Natürlich war das alles Unsinn, aber auf einer gewissen Ebene war er mit ihren Göttern und Sagen derart vertraut, dass sie ihm beinahe real vorkamen.
Und noch nie waren sie ihm so real vorgekommen wie in diesem Augenblick: besonders die hockende, groteske Gestalt des Ammut, das geifernde Krokodilmaul offen und glitzernd, der schuppige Kopf, der zum gefleckten Leib eines Leoparden wurde, der dann wiederum in das Hinterteil eines Nilpferdsüberging. Dieses Hinterteil war das Abstoßendste von allem: ein aufgeblähtes, schleimiges, missgestaltetes Gesäß, das sich auf dem Boden ausbreitete. Alle drei Tiere waren, wie Wicherly wusste, zur Zeit der Pharaonen Menschenfresser gewesen und daher enorm gefürchtet. Die monströse Vereinigung dieser drei war das übelste Lebewesen, das man sich im alten Ägypten vorstellen konnte.
Wicherly schüttelte den Kopf, rang sich ein klägliches Kichern ab und betrat das Grab. Er ließ sich von seiner eigenen Belesenheit verängstigen, von all den lachhaften Gerüchten, die im Museum kursierten. Dabei war das hier schließlich nicht irgendein Grab, versteckt in der Wüste am Oberen Nil; vielmehr erhob sich eine der größten, modernsten Großstädte der Welt genau darüber.
Im selben Augenblick war das ferne, gedämpfte Rumpeln einer nächtlichen U-Bahn zu hören. Das ärgerte ihn; trotz aller Bemühungen hatte man das Geräusch der Central-Park-West-U-Bahn nicht völlig auszuschließen vermocht.
Er überquerte den Brunnen und blickte zu den engen Schriftreihen aus dem Totenbuch hinauf, dabei blieb sein Blick an der alten Inschrift haften, die er bei seinem ersten Besuch so hochmütig als unwichtig beiseitegetan hatte:
Der Ort, der versiegelt ist. Was dort lieget, wird wiedergeboren durch die ihm innewohnende Ba-Seele; was in den verschlossenen Raum eindringt, wird seiner Ba-Seele beraubt. Das Auge des Horus wird mir Erlösung oder Verdammnis bringen, o großer Osiris.
Wie so viele Inschriften aus dem Ägyptischen Totenbuch war ihm auch diese nur schwer begreiflich. Doch als er sie ein zweites Mal las, spürte er einen Hauch des Verstehens. Die alten Ägypter glaubten, dass die Menschen fünf Seelen be säßen. DieBa-Seele war die unbeschreibliche Kraft und Persönlichkeit, die jeder Person zu eigen war: Diese Seele flog zwischen dem Grab und der Unterwelt hin und her, und sie war das Mittel, mit dem der Verstorbene die Verbindung mit der Unterwelt aufrechterhielt. Aber die Ba-Seele musste sich jede Nacht mit dem mumifizierten Leichnam wiedervereinigen, sonst starb der Tote erneut – und dieses Mal auf Dauer.
Diese Passage, so kam es Wicherly vor, besagte, dass diejenigen, die den versiegelten Ort – das Grabmal – betraten, ihrer Ba-Seele verlustig gingen und daher durch das Auge des Horus verdammt wurden. Im alten Ägypten galten die Geisteskranken als Menschen, die auf irgendeine Weise ihre Ba-Seele verloren hatten. Anders ausgedrückt: Diejenigen, die das Grab schändeten, verloren den Verstand.
Wicherly lief es kalt den Rücken hinunter. War nicht genau das Lipper, diesem armen Kerl, widerfahren?
Plötzlich musste er laut lachen, und seine Stimme hallte unangenehm in der Enge des Grabes wider. Was war denn los mit ihm? Er wurde ja schon so abergläubisch wie ein verfluchter Ire. Er schüttelte den Kopf, diesmal kräftiger, und begab sich in die
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