Pendergast 07 - Maniac - Fluch der Vergangenheit
Titel erhielt, als er an der Seite von Wilhelm dem Eroberer in England kämpfte. Gaspard war so etwas wie ein Tyrann: Er musste aus Dijon fliehen, als die Bauern und Leibeigenen, die auf seinen Gütern arbeiteten, revoltierten. Er ging mit seiner Familie an den Hof des Königs, aber es gab einen Skandal, und so sah sich die Familie gezwungen, Frankreich zu verlassen. Was genau der Familie als Nächstes widerfuhr, ist ein Geheimnis, aber es entstand eine furchtbare Spaltung. Der eine Zweig der Familie zog nach Venedig, während der andere – diejenigen, die ohne Gunst, Titel oder Geld zurückblieben – nach Amerika floh.«
Diogenes ging weiter zum nächsten Porträt. Es zeigte einen jungen Mann mit flachsblondem Haar, grauen Augen und einer weichen Kinnpartie, dessen volle und sinnliche Lippen große Ähnlichkeit mit seinen eigenen aufwiesen. »Dies ist einer des Venedig-Zweiges der Familie, der Sohn des Herzogs, Comte Lunéville – zu diesem Zeitpunkt war das leider schon nur noch ein Ehrentitel. Er gab sich dem Müßiggang und der Ausschweifung hin, und über mehrere Generationen folgten seine Nachfahren diesem Beispiel. Eine Zeitlang war diese Abstammungslinie wirklich betrüblich dezimiert. Erst hundert Jahre später kam sie erneut zu voller Blüte, als sich die beiden Linien durch Verheiratung in Amerika wiedervereinigten, doch natürlich erwies sich selbst dies als flüchtiger Ruhm.«
»Warum flüchtig?«, fragte Constance.
Diogenes betrachtete sie kurz. »Die Familie Pendergast befindet sich in langem, stetigem Niedergang. Mein Bruder und ich sind die Letzten. Zwar hat mein Bruder geheiratet, doch seine reizende Frau … ist viel zu früh von uns gegangen, ehesie Kinder gebären konnte. Ich habe weder Frau noch Kinder. Wenn wir ohne Nachkommen sterben, verschwindet die Familie Pendergast vom Gesicht der Erde.«
Sie gingen zum nächsten Gemälde weiter.
»Der amerikanische Zweig der Familie gelangte schließlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach New Orleans«, fuhr er fort. »Man bewegte sich komfortabel in den besten Kreisen der Gesellschaft. Dort ehelichte der Letzte des Venedig-Zweigs der Familie, il Marquese Orazio Paladin Prendergast, Eloise de Braquilanges – die Hochzeit war so verschwenderisch und prachtvoll, dass man noch Generationen später davon redete. In ihrem einzigen Sohn erwachte indes die Faszination für die Menschen und
Bräuche
der umgebenden Bayous. Er führte die Familie in eine gänzlich unerwartete Richtung.« Diogenes deutete auf ein Porträt, das einen großgewachsenen Mann mit Spitzbart in einem strahlend weißen Anzug mit blauem Halstuch zeigte. »Augustus Robespierre St. Cyr Pendergast. Er war die erste Frucht der wiedervereinigten Abstammungslinien der Familie, ein Arzt und Philosoph, der ein
r
aus seinem Nachnamen strich, damit dieser amerikanischer klang. Er gehörte im alten New Orleans zur Crème der feinen Gesellschaft – bis er eine hinreißende Schönheit aus dem tiefsten Bayou heiratete, die kein Englisch sprach und zu merkwürdigen nächtlichen Bräuchen neigte.« Diogenes hielt kurz inne, als denke er über irgendetwas nach. Dann kicherte er.
»Es ist schon erstaunlich«, hauchte Constance, die wider Willen fasziniert war. »All die Jahre habe ich in diese Gesichter geblickt und versucht, ihnen Namen und Lebensgeschichten zu verleihen. Bei einigen, die zu den historisch jüngeren gehören, konnte ich sie erraten, aber beim Rest …« Sie schüttelte den Kopf.
»Hat Uronkel Antoine Ihnen nie von seinen Vorfahren erzählt?«
»Nein. Er hat sie mit keinem Wort erwähnt.«
»Das wundert mich gar nicht, wirklich nicht; er hat sich im Streit von der Familie getrennt. Wie ich, ehrlich gesagt, auch.« Diogenes zögerte. »Und mein Bruder hat Ihnen gegenüber wohl auch nie viel über die Familie gesprochen, nicht wahr?« Constance nahm einen Schluck aus ihrem Glas, statt zu antworten.
»Ich weiß sehr viel über meine Familie, Constance. Ich habe mich bemüht, die geheimen Lebensgeschichten ihrer Mitglieder kennenzulernen.« Wieder sah er sie an. »Ich kann Ihnen ja gar nicht sagen, wie glücklich es mich macht, das hier mit Ihnen teilen zu können. Ich habe das Gefühl, dass ich mit Ihnen reden kann … wie mit keinem anderen Menschen.«
Nur kurz blickte sie ihm in die Augen, dann schaute sie wieder auf das Porträt.
»Sie verdienen es, Bescheid zu wissen«, fuhr er fort. »Denn schließlich sind auch Sie – in gewisser Weise – ein Mitglied der
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