Pendergast 07 - Maniac - Fluch der Vergangenheit
ständig mit einem Auge auf die Uhr sah. Er wusste, viele Blicke würden auf die Videomonitore gerichtet sein. Er trug zwar Wärteruniform, ging aber in die falsche Richtung – weg vom Ausbruchsversuch –, außerdem war sein Gesicht noch immer voller blauer Flecke und stark geschwollen. Man kannte ihn gut in Gebäude C. Jeder, der einen Blick von ihm erhaschte, würde ihn erkennen.
Pendergast wusste allerdings auch, dass dieses besondereVideobild zehn Sekunden lang – von sechshundertvierzig bis sechshundertdreißig – von dem Flash-Drive gesteuert werden würde, den er in den Sicherheitscomputer eingeschoben hatte. Der Flash-Drive würde vorübergehend zehn Sekunden lang das Videobild dieser Kamera speichern und es noch einmal abspielen. Dann würde das Bild zur nächsten Videokamera in der Reihe springen und den Vorgang wiederholen. Die Programmschleife würde nur einmal für jede Kamera durchlaufen: Pendergast verfügte somit über ein Zehn-Sekunden-Zeitfenster, nicht mehr, um durch jedes Blickfeld zu gehen. Sein Timing musste perfekt sein.
Ohne Zwischenfälle passierte er die Überwachungskamera und ging weiter über die langen, leeren Korridore von Ge bäude C – wegen des Fluchtversuchs waren die Wärter in andere Bereiche abgezogen worden. Manchmal ging er schneller, dann wieder langsamer, so dass er an jeder Überwachungskamera just in jenem Augenblick vorbeikam, in dem das Videosignal wiederholt wurde. Häufig quäkte sein Funkgerät. Einmal kam ihm eine kleine Rotte von Wärtern entgegengelaufen, rasch bückte er sich, um einen Schnürsenkel zuzubinden, und wandte dabei sein geschwollenes, zerschrammtes Gesicht ab. Sie rannten an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, mit ganz anderen Dingen beschäftigt.
Er kam am Speisesaal und der Küche von Gebäude C vorbei, aus denen es stark nach Desinfektionsmitteln roch. Wieder bog er um eine Ecke, dann um noch eine, bis er schließlich den letzten Abschnitt des Korridors vor dem Checkpoint und der Sicherheitstür zwischen dem Gebäudekomplex C des Bundesgefängnisses und dem Gebäudekomplex B des Staates New York erreichte.
In Gebäude C war Pendergasts Gesicht bekannt. In Gebäude B hingegen überhaupt nicht.
Er näherte sich der Sicherheitstür, wischte die Kreditkartedurch den Schlitz, legte zur Überprüfung des Fingerabdrucks die Hand auf den Berührungsbildschirm und wartete.
Sein Herz schlug etwas schneller als normal. Der Augenblick der Wahrheit war gekommen.
Bei exakt zweihundertneunzig Sekunden leuchtete das Lämpchen in der Sicherheitstür grün auf, und die Metallschlösser öffneten sich.
Pendergast betrat das Gebäude B und bog um die erste Ecke im Gang, dann blieb er in dem toten Winkel stehen, den die leichte Biegung erzeugte. Er streckte die Hand nach der tiefsten Schnittwunde auf seiner Wange aus und zog mit einem heftigen Ruck die Wundnaht heraus. Sowie das warme Blut aus der Wunde rann, verrieb er es über Gesicht, Hals und Hände. Anschließend zog er sein Hemd hoch und blickte kurz auf die Wundnaht an seiner Seite, dort, wo die Klinge eingedrungen war. Pendergast holte tief Luft. Dann riss er auch diese Wunde auf.
Die Wunden mussten so frisch wie möglich aussehen.
Bei einhundertundzehn Sekunden hörte Pendergast das Geräusch von sich rasch nähernden Schritten, und kurz darauf rannte, wie zuvor geplant, einer der entflohenen Häftlinge an ihm vorbei; Jug war brav der Fluchtroute gefolgt, die Glinn für ihn vorgesehen hatte. Natürlich würde er damit keinen Erfolg haben – man würde ihn am Ausgang zu Gebäude B schnappen, wenn nicht vorher; aber auch das war Teil des Plans. Pochos Gang diente lediglich als Ablenkungsmanöver. Keiner von ihnen würde entkommen.
Jug war kaum an ihm vorbeigelaufen, da schrie Pendergast auf, warf sich auf den Fußboden und drückte gleichzeitig den Alarmknopf an seiner Notrufeinheit:
»Beamter verletzt! Hilfe! Beamter verletzt!«
45
Oberpfleger Ralph Kidder kniete über dem ausgestreckten Körper des Wärters. Dieser schluchzte wie ein Baby und brabbelte davon, angegriffen worden zu sein, und er habe Angst, zu sterben. Kidder versuchte, sich auf das anstehende Problem zu konzentrieren. Mit dem Stethoskop prüfte er den Herzschlag – kräftig und schnell –, untersuchte Hals und Gliedmaßen auf gebrochene Knochen, nahm den Blutdruck – ausgezeichnet – und besah sich die Schnittwunde im Gesicht: hässlich, aber oberflächlich.
»Wo tut es weh?«, fragte er noch einmal,
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