Pendergast 07 - Maniac - Fluch der Vergangenheit
die Krankenstation zurückkehrte, hatte er eine Stinklaune. Ein paar der Wachleute hatten die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen, um mit einigen besonders verhassten Insassen offene Rechnungen zubegleichen, und dabei ein halbes Dutzend Knochen gebrochen.
Er sah auf die Uhr und fragte sich, was mit dem Wärter, den er allein gelassen hatte, wohl passiert war. Fest stand, dass der Kerl in jeder der großen Notfallaufnahmen in New York mindestens zweimal so lange hätte warten müssen. Kidder zog den Vorhang zurück und betrachtete den Wärter. Unter der Decke verborgen und zur Wand gedreht, schlief er tief und fest, und das trotz der übermäßig lauten Gameshow, die gerade im Fernsehen lief.
»Sind Sie sicher, Joy, dass die Tür Nummer 2 Ihre Wahl ist? Also gut, dann machen wir sie mal auf! Hinter Tür Nummer 2 ist …« (Lautes Stöhnen des Publikums) …
»Zeit für Ihre Röntgenuntersuchungen, Mr. …«, Kidder blickte auf sein Klemmbrett, »… Sidesky.«
Keine Antwort.
»… eine Kuh. Also ist das nicht die schönste Holsteiner-Kuh, die Sie je gesehen haben, meine Damen und Herren? Jeden Morgen frische Milch, Joy, denken Sie mal drüber nach!«
»Mr. Sidesky?«, sagte Kidder mit erhobener Stimme, griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Jähe, gesegnete Stille.
»Zeit für die Röntgenuntersuchungen!«
Keine Reaktion.
Kidder gab der Schulter des Mannes einen sanften Stoß – dann zuckte er, unterdrückt aufschreiend, zurück. Selbst durch die Decke fühlte sich der Körper kalt an.
Das konnte nicht sein. Der Mann war doch erst vor einer Stunde auf Station gebracht worden, und zwar lebendig und gesund.
»He, Sidesky! Wachen Sie auf!« Wieder berührte Kidder mit zitternder Hand die Schulter – und fühlte wieder diese grässliche, gedämpfte Kälte.
Voller Angst ergriff er die Ecken der Decke und zog sie zurück, worauf ein nackter Leichnam, blaurot und grotesk aufgedunsen, zum Vorschein kam. Der Gestank nach Verwesung und Desinfektionsmitteln stieg auf und hüllte Kidder ein wie ein Gifthauch.
Er taumelte, hielt die Hand vor den Mund, würgte; ihm war vor lauter Verwirrung und Unglauben ganz schwindlig. Der Kerl war nicht nur gestorben, der verrottete ja schon. Wie war das möglich? Kidder blickte sich hektisch um, aber da war kein anderer Patient auf der Station. Es hatte da irgendeinen schrecklichen Fehler gegeben, irgendeine aberwitzige Verwechslung …
Kidder atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Dann packte er die Leiche bei den Schultern und drehte sie auf den Rücken. Der Kopf baumelte herum, die Augen blickten starr, die Zunge hing heraus wie die eines Hundes, das Gesicht war blau und aufgedunsen, aus dem Mund sickerte irgendeine gelbe Flüssigkeit.
»O Gott!«, stöhnte Kidder und wich zurück. Das war nicht der verletzte Wärter. Sondern der tote Häftling, den er erst am Vortag bearbeitet hatte, als er dem Radiologen dabei geholfen hatte, Röntgenaufnahmen für die Kriminaltechnik zu machen. Kidder räusperte sich und piepte den Leitenden Arzt von Herkmoor an. Kurz darauf hörte er dessen gereizte Stimme.
»Ich habe zu tun, worum geht’s?«
Einen Moment lang wusste Kidder nicht, was er darauf entgegnen sollte. »Sie kennen doch den toten Häftling im Leichenschauhaus …«
»Lacarra? Den hat man vor einer Viertelstunde rausgekarrt.«
»Nein. Nein, hat man nicht.«
»Reden Sie keinen Unsinn. Ich habe die Verlegung selber unterschrieben und gesehen, wie der Leichensack in das Bestattungsfahrzeuggeladen wurde. Ich habe am Tor auf die Genehmigung von ganz oben gewartet, damit der Leichenwagen aufs Gelände fahren kann, um die Leiche abzuholen.«
Kidder schluckte. »Das glaube ich nicht.«
»Was? Wovon reden Sie eigentlich, Kidder?«
»Pocho Lacarra …« Er schluckte schwer und leckte seine trockenen Lippen. »Pocho Lacarra ist immer noch hier.«
Zwanzig Meilen weiter südlich fuhr ein Leichenwagen auf dem Taconic State Parkway bei geringem Verkehr in Richtung New York City. Nach einigen Minuten bog der Wagen auf einen Rastplatz und rollte aus.
Vincent D’Agosta riss sich die weiße Bestatteruniform vom Leib, stieg auf die Ladefläche und zog den Reißverschluss des Leichensacks auf. Darin befand sich der große, weiße, nackte Körper von Special Agent Pendergast. Pendergast setzte sich auf und blinzelte.
»Pendergast! Verdammt, wir haben’s geschafft! Wir haben’s geschafft!«
Aber Pendergast hob abwehrend die Hand. »Mein lieber Vincent, bitte
Weitere Kostenlose Bücher