Pendergast 07 - Maniac - Fluch der Vergangenheit
weiterging. Diogenes sah all diese Menschen, doch er schenkte ihnen nur wenig Beachtung. Sie waren nichts als flüchtige Eindrücke, Ablenkungen für seinen Geist, damit er nicht zu anderen Vorstellungen abschweifte, die ihn schier in den Wahnsinn zu treiben drohten.
Nach den ersten Minuten, die von Angst, Unglauben und weißglühender Wut erfüllt gewesen waren, war es ihm recht gut gelungen, die Gedanken an seinen Fehlschlag auf Abstand zu halten. Denn Tatsache war, dass er sich, gemessen an den Umständen, ganz gut geschlagen hatte: Er verfügte stets über mehrere Notfallpläne, und am heutigen Abend hatte er haarklein den geeignetsten befolgt. Es war erst knapp eine halbe Stunde her, dass er aus dem Museum geflohen war. Und trotzdem saß er bereits sicher im
Lake Champlain,
dem Nachtzug nach Montreal.
Der Zug war ideal für Diogenes’ Zwecke: Er hielt in Cold Springs am Hudson, wo er von elektrischem auf Dieselbetrieb wechselte und wo man allen Passagieren dreißig Minuten Zeit gab, sich die Beine zu vertreten.
Diogenes wollte die halbe Stunde nutzen, um seiner alten Freundin Margo Green einen letzten Besuch abzustatten. Die Injektionsspritze war bereits gefüllt und ruhte liebevoll aufSamt gebettet in einem Geschenkkarton, schön verpackt und mit einer Schleife versehen. Der Geschenkkarton wieder um steckte sicher verstaut in seiner Reisetasche, zusammen mit seinem wertvollsten Besitz: seinen Kladden, seiner Privatapotheke aus Halluzinogenen und Opiaten, seinen gruseligen kleinen Apparaturen, wobei er allerdings niemandem, der einen Blick darauf geworfen hatte, zu überleben gestattet hatte; das alles lag jetzt sicher im oberen Gepäckteil seines Abteils. Im Kleidersack in dem kleinen Schrank neben der Tür hingen genug Kleider und Verkleidungen, damit er unentdeckt nach Hause zurückkehren konnte. Und in der Innentasche seines Jacketts waren auch seine Reisepässe.
Jetzt blieb ihm nur noch eines übrig: so wenig wie möglich über das Geschehene nachzudenken. Das tat er, indem er sich in Gedanken wieder Margo Green zuwandte.
Bei seinen umfassenden, disziplinierten Vorbereitungen der Sound-and-Light-Show war sie die einzige Ablenkung gewesen, die er sich gegönnt hatte.
Sie
war das einzige Überbleibsel aus dem Frühstadium seines Vorhabens. Anders als die anderen war Margo leichte Beute gewesen, mit der er ein wenig spielen und der er sich mit wenig Risiko, Zeit oder Mühe entledigen konnte.
Wieso hatte er es eigentlich besonders auf sie abgesehen – mehr als, sagen wir, auf William Smithback, Nora Kelly, Vincent D’Agosta oder Laura Hayward? Er war sich nicht sicher, aber er nahm an, dass es ihre lange Verbundenheit zum Museum war – zu diesen bramarbasierenden, sterbenslangweiligen, arschkriecherischen, oberlehrerhaften, armseligen, verknöcherten, von Scheiße überkrusteten Kleingeistern, unter denen er als Hugo Menzies mehr Jahre, als er zu zählen wagte, begraben gewesen war. Es war eine unerträglich lange Pein gewesen. Die ganze Mischpoke wäre bei der Sound-and-Light-Show draufgegangen – bis auf Margo Green. Was die anderenanging, hatte er versagt, aber das würde ihm bei ihr nicht passieren.
Es hatte ihm Vergnügen bereitet, Margo in ihrem komatösen Zustand mehrfach zu besuchen, diesem Zustand, den er mit großer Sorgfalt herbeigeführt und verlängert hatte; er hatte sie am Rand des Todes gehalten, hatte den Schmerz im höchstmöglichen Maß aus ihrer verwitweten Mutter herausgekitzelt. Es war ein Gebräu des Leidens, von dem er große Schlucke nahm und dessen durchdringender Geschmack seinen eigenen Durst nach dem trostlosen Dasein erneuerte, das sein Leben war.
Es klopfte an der Tür.
»Herein«, sagte Diogenes.
Der Zugbegleiter trat ein, er rollte einen Teewagen vor sich her, dessen Tablett er auf einem Tischchen in der Nähe abstellte. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Sir?«
»Im Augenblick nicht. In einer Stunde können Sie mein Bett machen.«
»Sehr wohl, Sir. Ich bringe Ihnen gleich den Zettel für Ihre Frühstücksbestellung.« Wieder zog sich der Zugbegleiter unter respektvoller Verbeugung zurück.
Diogenes saß einen Augenblick da und blickte erneut auf den Bahnsteig. Dann, ganz langsam, zog er einen Silberflakon aus seiner Brusttasche. Er öffnete den Flakon und schenkte sich mehrere Fingerbreit der hellgrünen Flüssigkeit, die für ihn blassgrau aussah, in ein Trinkglas auf dem Tablett. Dann holte er aus seiner ledernen Reisetasche einen Löffel hervor:
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